24 kurze Albträume (German Edition)
Millimeter. Meine Arme, meine Beine, mein Herz. Die Wahrheit fordert ihren Tri
Marion Minks
Todsünde
Der spärliche Lichtkegel seiner Fahrradlampe schwankte auf dem schmalen Asphaltband, das den Wald zerschnitt. Keuchend trat Christian in die Pedale und kämpfte sich die Steigung hinauf. Weit konnte es nicht mehr sein, das wusste er, obwohl er zwanzig Jahre lang diese Straße gemieden hatte. Endlich kam das verwitterte Holzkreuz in Sicht. Die alte Bundesstraße war gesäumt von ähnlichen Kreuzen, die an die Opfer von Unfällen gemahnten, doch hier, auf der Strecke zwischen dem Dorf und dem Hof seiner Eltern, war es das einzige. Er lehnte sein Fahrrad an den Baum, an denselben wie damals. Plötzlich riss der Wind den Wolkenschleier vom Himmel und der abnehmende Mond leuchtete durch die herbstkahlen Bäume. Es schien, als zitterten Irrlichter auf der verblassten Inschrift:
Mirko Müller – 31.Oktober 1993
Auf den Tag genau zwanzig Jahre waren seitdem vergangen. Das Kreuz hatte sein Vater gebaut und beschriftet. Christian hatte es eine Woche nach dem Unfall aufgestellt, um die Stelle zu markieren, was man allgemein als Akt der Trauer um den verunglückten Bruder gewürdigt hatte. Niemand war je auf den Gedanken gekommen, er könne mit dem Unfall etwas zu tun haben. Kein Wunder, denn niemand ahnte, wie sehr er seinen Bruder gehasst hatte - nicht einmal Mirko selbst, der viel zu eitel war, um sich mit den Gefühlen anderer zu beschäftigen. Mirko hatte es verstanden, andere für sich einzunehmen. Er war immer der Liebling der Mutter gewesen und der Schwarm der Mädchen. Und er hatte seine bevorzugte Stellung bei jeder Gelegenheit schamlos ausgenutzt. So war das, seit er denken konnte. Christian hätte diese Ungerechtigkeit wohl für den Rest seines Lebens hingenommen, wenn da nicht die Sache mit Marina gewesen wäre. Marina, seiner ersten und einzigen, heimlichen Liebe.
Nacht für Nacht träumte er, wie er sie in seinen Armen hielt und küsste. Dann hatte sie ihn auf dem Schützenfest angesprochen. Verlegen und linkisch hatte er sich um Marina bemüht und dabei nicht bemerkt, dass ihr Interesse gar nicht ihm galt. Wen sie in Wahrheit für sich gewinnen wollte, erfuhr er am nächsten Tag von seinem Bruder, als der ihm dabei zusah, wie er den Stall ausmistete. Mit stolz geschwellter Brust verkündete Mirko, dass er Marina entjungfert hätte. Wie damals fühlte er wieder den Boden unter den Füßen wanken und den Schmerz, der ihm das Herz in Stücke gerissen hatte.
»Ich kann ja mal was für dich klarmachen bei ihr. Is'n echt scharfes Luder, die Marina.«
Mit dieser letzten Demütigung hatte Mirko sein eigenes Todesurteil gesprochen.
Keine Woche später erfolgte die Vollstreckung. Tod durch Enthauptung. Sanft strich Christian über die Rinde der Buche, an der sein Fahrrad lehnte. Die Kerbe, die das dünne Drahtseil in den Stamm geschnitten hatte, war längst nicht mehr zu ertasten.
Er horchte in sich hinein, doch Gewissensbisse konnte er nicht spüren, heute so wenig wie damals. Lächelnd dachte er an das hysterische Wehklagen seiner Mutter und die entsetzten Gesichter im Dorf angesichts der kopflosen Leiche seines Bruders, die der Vater am nächsten Morgen auf der Straße gefunden hatte. Er grinste in Erinnerung daran, dass die Polizei die verdächtigen Einkerbungen an zwei gegenüber liegenden Bäumen nahe der Unfallstelle, die von seinem Drahtseil herrührten, zwar gesehen, aber nie mit ihm in Verbindung gebracht hatte. Sogar die Pilzsucher waren in diesem Teil des Waldes noch jahrelang ausgeblieben – aus Angst vor Mirkos Kopf.
Noch einmal kostete er vom Gefühl der Genugtuung und des Triumphes, das ihn vor zwanzig
Weitere Kostenlose Bücher