Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
24 kurze Albträume (German Edition)

24 kurze Albträume (German Edition)

Titel: 24 kurze Albträume (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regina Schleheck , Oliver Henzler , Michael Rapp , Bernhard Giersche
Vom Netzwerk:
Mil­li­me­ter. Mei­ne Arme, mei­ne Bei­ne, mein Herz. Die Wahr­heit for­dert ih­ren Tri 
     
 

Ma­ri­on Minks
     
    Tod­sün­de
     
    Der spär­li­che Licht­ke­gel sei­ner Fahr­rad­lam­pe schwank­te auf dem schma­len As­phalt­band, das den Wald zer­schnitt. Keu­chend trat Chris­ti­an in die Pe­da­le und kämpf­te sich die Stei­gung hin­auf. Weit konn­te es nicht mehr sein, das wuss­te er, ob­wohl er zwan­zig Jah­re lang die­se Straße ge­mie­den hat­te. End­lich kam das ver­wit­ter­te Holz­kreuz in Sicht. Die alte Bun­des­straße war ge­säumt von ähn­li­chen Kreu­zen, die an die Op­fer von Un­fäl­len ge­mahn­ten, doch hier, auf der Strecke zwi­schen dem Dorf und dem Hof sei­ner El­tern, war es das ein­zi­ge. Er lehn­te sein Fahr­rad an den Baum, an den­sel­ben wie da­mals. Plötz­lich riss der Wind den Wol­ken­schlei­er vom Him­mel und der ab­neh­men­de Mond leuch­te­te durch die herbst­kah­len Bäu­me. Es schi­en, als zit­ter­ten Irr­lich­ter auf der ver­blass­ten In­schrift: 
    Mir­ko Mül­ler – 31.Ok­to­ber 1993
    Auf den Tag ge­nau zwan­zig Jah­re wa­ren seit­dem ver­gan­gen. Das Kreuz hat­te sein Va­ter ge­baut und be­schrif­tet. Chris­ti­an hat­te es eine Wo­che nach dem Un­fall auf­ge­s­tellt, um die Stel­le zu mar­kie­ren, was man all­ge­mein als Akt der Trau­er um den ver­un­glück­ten Bru­der ge­wür­digt hat­te. Nie­mand war je auf den Ge­dan­ken ge­kom­men, er kön­ne mit dem Un­fall et­was zu tun ha­ben. Kein Wun­der, denn nie­mand ahn­te, wie sehr er sei­nen Bru­der ge­hasst hat­te - nicht ein­mal Mir­ko selbst, der viel zu ei­tel war, um sich mit den Ge­fühlen an­de­rer zu be­schäf­ti­gen. Mir­ko hat­te es ver­stan­den, an­de­re für sich ein­zu­neh­men. Er war im­mer der Lieb­ling der Mut­ter ge­we­sen und der Schwarm der Mäd­chen. Und er hat­te sei­ne be­vor­zug­te Stel­lung bei je­der Ge­le­gen­heit scham­los aus­ge­nutzt. So war das, seit er den­ken konn­te. Chris­ti­an hät­te die­se Un­ge­rech­tig­keit wohl für den Rest sei­nes Le­bens hin­ge­nom­men, wenn da nicht die Sa­che mit Ma­ri­na ge­we­sen wäre. Ma­ri­na, sei­ner ers­ten und ein­zi­gen, heim­li­chen Lie­be.
    Nacht für Nacht träum­te er, wie er sie in sei­nen Ar­men hielt und küss­te. Dann hat­te sie ihn auf dem Schüt­zen­fest an­ge­spro­chen. Ver­le­gen und lin­kisch hat­te er sich um Ma­ri­na be­müht und da­bei nicht be­merkt, dass ihr In­ter­es­se gar nicht ihm galt. Wen sie in Wahr­heit für sich ge­win­nen woll­te, er­fuhr er am nächs­ten Tag von sei­nem Bru­der, als der ihm da­bei zu­sah, wie er den Stall aus­mis­te­te. Mit stolz ge­schwell­ter Brust ver­kün­de­te Mir­ko, dass er Ma­ri­na ent­jung­fert hät­te. Wie da­mals fühl­te er wie­der den Bo­den un­ter den Füßen wan­ken und den Schmerz, der ihm das Herz in Stücke ge­ris­sen hat­te.  
    »Ich kann ja mal was für dich klar­ma­chen bei ihr. Is'n echt schar­fes Lu­der, die Ma­ri­na.«
    Mit die­ser letzten De­müti­gung hat­te Mir­ko sein ei­ge­nes To­des­ur­teil ge­spro­chen.
    Kei­ne Wo­che später er­folg­te die Voll­streckung. Tod durch Ent­haup­tung. Sanft strich Chris­ti­an über die Rin­de der Bu­che, an der sein Fahr­rad lehn­te. Die Ker­be, die das dün­ne Draht­seil in den Stamm ge­schnit­ten hat­te, war längst nicht mehr zu er­tas­ten.
    Er horch­te in sich hin­ein, doch Ge­wis­sens­bis­se konn­te er nicht spüren, heu­te so we­nig wie da­mals. Lächelnd dach­te er an das hys­te­ri­sche Weh­kla­gen sei­ner Mut­ter und die ent­setzten Ge­sich­ter im Dorf an­ge­sichts der kopf­lo­sen Lei­che sei­nes Bru­ders, die der Va­ter am nächs­ten Mor­gen auf der Straße ge­fun­den hat­te. Er grins­te in Er­in­ne­rung dar­an, dass die Po­li­zei die ver­däch­ti­gen Ein­ker­bun­gen an zwei ge­gen­über lie­gen­den Bäu­men nahe der Un­falls­tel­le, die von sei­nem Draht­seil her­rühr­ten, zwar ge­se­hen, aber nie mit ihm in Ver­bin­dung ge­bracht hat­te. So­gar die Pilz­su­cher wa­ren in die­sem Teil des Wal­des noch jah­re­lang aus­ge­blie­ben – aus Angst vor Mir­kos Kopf.
    Noch ein­mal kos­te­te er vom Ge­fühl der Ge­nug­tu­ung und des Tri­um­phes, das ihn vor zwan­zig

Weitere Kostenlose Bücher