24 kurze Albträume (German Edition)
letzte Brief
Eine faltige, alte Hand führt zittrig die Feder über das vergilbte Papier, welches aus derselben Zeit stammt wie die Geschichte, die darauf niedergeschrieben werden soll. Wenn ich bedenke, wie jung ich damals war, kann ich kaum glauben, dass es meine Hand ist, die es kaum noch vermag, einen Buchstaben leserlich darzustellen. Doch ich muss es tun. Ehe es zu spät ist. Ehe die Geschichte mit mir stirbt. Sie begleitete mich mein ganzes Leben als stille Wahrheit, verschwiegen und fantastisch.
Es war zu der Zeit, als wir an langen Winterabenden in der Stube um den Ofen herum kauerten und den Alten gebannt zuhörten, wie sie von unglaublichen Zufällen und Begegnungen erzählten, die sich einst zugetragen haben sollten. So erfuhren wir von vielen Wesen, deren Existenz der moderne Mensch von heute bestenfalls belächelt. Wesen, aus einer anderen Welt. Weder gut noch böse, doch leblos und darum auf uns angewiesen.
In einer dieser stürmischen Nächte zwischen Weihnachten und Neujahr verkroch ich mich tief unter die kratzige Decke, als der Wind um das Haus pfiff und dem Gebälk schauerliche Geräusche abverlangte. Es knackte und heulte, dass mir ganz anders zumute wurde. Manchmal half es, einfach aus dem Fenster zu sehen um sich zu überzeugen, dass es wirklich nur der Wind war, der die Fantasie anregte. Also tat ich, was mich schon so viele Male beruhigt hatte, hauchte die vereiste Scheibe an und rieb einen kleinen Kreis frei, um einen Blick hinaus zu wagen. Doch außer den knorrigen Bäumen und dem im Wind herumwirbelnden Schnee sah ich noch etwas anderes: Ein Mann mit einer Fackel machte sich daran, hinauf auf den Glauberg zu steigen. Ich erkannte ihn. Es war der Amtmann. Ein gefürchteter Mensch, von dem man sagte, er sei einst ein armer Schlucker gewesen und nach einer Nacht auf dem Berge als reicher Mann zurückgekehrt. Ich fragte mich, ob er wohl hinaufstieg, um abermals reicher als zuvor zurückzukehren.
Auf einmal wurde ich weiteren Personen gewahr. Sie waren zu fünft und folgten dem Amtmann in einigem Abstand. Lange Umhänge schützen sie vor der Kälte. Einer der Umhänge war rot, die anderen dunkel. Sie bewegten sich in vollkommenem Gleichgang, doch es schien, als berührten sie dabei nicht den Boden. Meine Neugier war geweckt. Rasch zog ich mich an, schlich mich mit meiner Puppe im Arm aus dem Haus und pirschte leise den Männern hinterher. Der Wind zerrte an mir, als wollte er mich forttragen. Die Männer folgten dem Amtmann auf den Hügel, und ich folgte ihnen.
Zu meiner Verwunderung war es auf dem Glauberg völlig ruhig und windstill. Warmes Licht trat aus einer Pforte mitten auf der Wiese, die ich dort noch nie gesehen hatte. Ich verbarg mich hinter den Resten des Ringwalls, der das Gebiet umrandete und beobachtete, was geschah. Der Amtmann war gerade hineingegangen und nun folgte ihm die Gestalt mit dem roten Umhang.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, verlies mein Versteck und schlich mich an die anderen heran. Beherzt zupfte ich am Umhang des Kleinsten, als der Rote gerade wieder durch die Pforte schritt. Ich war überrascht, als sich mir das Gesicht einer wunderschönen, jungen Frau zuwendete und mich verwundert ansah. Dann lächelte sie.
»Ist das der Weihnachtsmann?«, fragte ich leise und deutete auf den roten Mann. Der drehte sich kurz um und sah mich beinahe ebenso verwundert an, wie zuvor die schöne Frau. Dann nickte er ihr zu. Ich war sehr erstaunt, dass er keinen langen, weißen Bart hatte.
»Ja«, erwiderte die Frau, deren Stimme einen unwiderstehlich süßen Klang hatte. Plötzlich hörte ich den Amtmann stöhnen und wehklagen.
»War er böse?«
»Ja. Darum ist der Weihnachtsmann gekommen und nimmt ihm das Geschenk wieder weg.«
Ich erschrak.
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