24 Stunden
sie die Klinge vorsichtig in ihr Haar.
Sie verschwand.
Karen drehte den Kopf hin und her, um zu prüfen, ob man es sehen konnte. Es blieb verborgen. Sie griff in ihr Haar, um zu testen, wie schnell man es fühlen würde. Zu schnell. Hickey würde die Klinge sofort entdecken, wenn er ihren Kopf anfassen würde.
Karen zog die Klinge aus dem Haar und betrachtete sie noch einmal. Zwölf Zentimeter Plastik und chirurgischer Stahl, flacher als ein Schlüssel und leichter als ein Bleistift. Die Papillon-Lösung kam nicht in Frage. Sie wandte sich vom Spiegel ab und schaute über die Schulter auf ihre Pobacken. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh, ein paar Pfund zu viel auf den Rippen zu haben. Als sie das Skalpell mit dem Griff nach unten vorsichtig zwischen ihre Pobacken schob, schaute sie ängstlich in den Spiegel. Es fühlte sich kalt und fremd an, doch nur die silberne Spitze der Klinge war am Ende ihres Rückgrates sichtbar.
So musste es gehen.
Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass es ihr gelang, eine Wende des Schicksals herbeizuführen. Sie öffnete den Schrank, in dem die schmutzige Wäsche lag. Ganz oben waren zwei Fächer, in denen Sachen lagen, die sie selten trug. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und durchwühlte hektisch das Fach.
Da.
Sie zwängte sich in das bordeauxrote Samt-Dessous, das Will ihr im letzten Jahr gekauft hatte. Es war sofort in diesem Schrank verschwunden, ohne dass sie es auch nur anprobiert hatte. Das Oberteil war so raffiniert geschnitten, dass ihr Dekollete an die Strandhäschen von Baywatch erinnerte. Das Unterteil war ungeheuer eng. Es bestand nur aus einem kleinen Spitzendreieck über dem Schritt und verdeckte kaum etwas.
Sie sah aus wie eine französische Hure. Ausgezeichnet.
Abby, die im dunklen Dickicht hockte, sah im Mondlicht, wie Huey schweren Schrittes an ihr vorbeiging.
»Abby?«, rief er. »Warum bist du weggelaufen? Du hast mir einen Schrecken eingejagt.«
Sie schaute auf die Puppe, die sie auf die Kühltasche gelegt hatte, um sie vor dem Gestrüpp zu schützen. Es kostete sie große Anstrengung, keine Geräusche zu machen, denn ihre Schienbeine waren schon ganz zerkratzt und brannten höllisch. Eigentlich hatte sie sich nicht so weit vom Licht entfernen wollen, aber sie wusste, dass Huey sie finden würde, wenn sie zu nah beim Haus blieb.
Nur ein paar Meter von ihr entfernt blieb er stehen und schaute in den Wald. »Abby? Wo bist du?«
Sie fragte sich, wie lange sie hier wohl warten könnte. Der Wald machte ihr keine Angst. Normalerweise jedenfalls nicht. Ihr Haus stand auch mitten im Wald. Allerdings hatte sie noch nie allein eine Nacht im Wald verbracht. Nur mit ihrem Dad im Indian-Princess-Zeltlager.
Abby hörte seltsame Geräusche und fing an zu frösteln. Tiere flitzten durchs Unterholz. Gürteltiere oder vielleicht Beutelratten. Bei Kate Mosby, die ein Stück weiter die Straße hoch wohnte, gab es eine Beutelratte, die der Katze immer das Futter wegfraß. Abby hatte einmal beobachtet, wie die Katze gegen sie gekämpft hatte. Und sie hatte die langen, spitzen Zähne der Beutelratte gesehen, als sie die Katze angezischt hatte. Abby wusste, dass sie nicht mehr still sitzen könnte, wenn jetzt eine Beutelratte in ihre Nähe käme.
Das andere Problem war ihr Zucker. Sie hatte das Gefühl, dass im Moment alles in Ordnung war, aber ihre Mutter war nicht da, um den Zucker zu messen. Und wenn sie jetzt »aus den Latschen kippte« - wie es ihr Vater nannte -, würde sie eine Spritze brauchen. Sie hatte sich noch nie selbst gespritzt.
»Komm her!«, schrie Huey, und jetzt hörte er sich richtig böse an.
Abby sah, dass er einen dicken Knüppel vom Boden aufhob, damit in den Büschen herumstöberte und sich dann von ihr entfernte.
Abby schaute zur Hütte, aus deren Fenstern einladendes gelbes Licht drang. Sie hätte lieber dort drinnen gesessen, wo es keine Tiere und Spinnen gab. Der Wind trag Hueys Stimme an ihr Ohr.
»Nachts treiben sich böse Tiere im Wald herum! Wölfe und Bären und alles Mögliche! Huey muss auf dich aufpassen!«
Abby schlang die Arme um ihren Körper und versuchte wegzuhören. Vielleicht gab es hier Bären, aber sie glaubte eher nicht. Und ganz bestimmt keine Wölfe. Es gab gar keine Wölfe mehr.
»Hier gibt's auch Schlangen!«, rief Huey. »Gruselige Schlangen, die durch die Dunkelheit kriechen und nach warmen Menschenkörpern suchen.«
Ein Schauer kroch über Abbys Rücken. Es stimmte, dass es in Mississippi Schlangen gab.
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