24 Stunden
Hickey noch nicht festgestellt hatte, dass der Fernseher im Schlafzimmer mit einer Satellitenschüssel verbunden war. Sie wollte nicht, dass er auf Cinemax umschaltete und sich von den Softpornostreifen, die scheinbar die ganze Nacht liefen, inspirieren ließ.
»Bogart ist gut«, lallte Hickey, der ziemlich betrunken war. »Aber Mitchum war der Größte. Der hat gar nicht gespielt, verstehst du? Der war wirklich so.«
Karen erwiderte nichts. Noch nie in ihrem Leben war die Zeit so langsam verstrichen. Noch nicht einmal, als sie in den Wehen lag und schreiend auf das Ende der Geburt hoffte. Es kam ihr so vor, als ob sich die Erde langsamer drehte und nur noch das Ziel hatte, ihre Familie zu quälen. Sie hatte das für bestimmte Orte charakteristische Reich der Zeitlosigkeit betreten. Das waren zum Beispiel Gefängnisse. Und Klöster.
Sie selbst kannte jedoch am besten die Wartezimmer der Krankenhäuser: Zeitblasen, die ganze Familien betraten, für die die Zeit stehen blieb. Sie warteten auf die Nachricht, ob das Herz des Familienoberhauptes nach dem dreifachen Bypass wieder schlagen oder ob eine wohl gemeinte Knochenmarkspende ein Kind retten oder töten würde. Nun hatte sich ihr Schlafzimmer in so eine Zeitblase verwandelt, in ein Vakuum. Nur dass ihr Kind nicht in der Hand eines Arztes war.
»Lebst du noch?«, fragte Hickey.
»Kaum«, flüsterte sie mit Blick auf Fredric March. March erinnerte sie an ihren Vater. Auch er war ein Mann von beispielhafter Zurückhaltung und Würde, und doch tat er alles Erforderliche, wenn die Lage brenzlig wurde. Karen weinte immer noch, wenn sie Die besten Jahre unseres Lebens mit March und diesem armen Jungen sah, der im Krieg beide Hände verloren hatte und versuchte, Klavier spielen zu lernen...
»He, lebst du noch?«
»Ja«, erwiderte sie.
»Dann solltest du froh sein.«
Sie spürte, dass Hickey Streit suchte, aber sie hatte keine Lust, sich zu streiten.
»Es gibt nämlich viele Leute, die eigentlich noch leben sollten, es aber nicht tun«, sagte er. »Weißt du das?«
Sie warf ihm einen Blick zu und fragte sich, an wen er dachte. »Ich weiß.«
»Einen Scheißdreck weißt du!«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Krankenschwester war.«
Er schaute sie an. »Stolz drauf? Menschen, die mit dem Tode ringen, warten auf Schmerzmittel, während die Krankenschwestern sich ihre blöden Fingernägel anmalen, auf die Uhr schielen und ungeduldig auf das Ende ihrer Schicht warten.«
Das konnte sie so nicht stehen lassen. »Ich bin stolz darauf, als Krankenschwester gearbeitet zu haben. Und ich weiß auch, dass so etwas vorkommt. Aber Krankenschwestern müssen sich an die Anordnungen der Ärzte halten. Wenn sie eigenmächtig handeln, werden sie gefeuert.«
Hickey starrte sie böse an und trank noch einen Schluck Whiskey. »Komm mir bloß nicht mit den Ärzten.«
Karen fiel wieder ein, was Hickey über die anderen Entführungen gesagt hatte. Es waren immer Kinder von Ärzten gewesen. Hickey hatte auch darüber gesprochen, dass Ärzte immer teure Sachen sammelten. Doch das konnte nicht der einzige Grund sein, warum er sie ausgewählt hatte. Viele Leute sammelten teure Sachen. Die Ärzte mussten mit dem Schmerz tief in Hickeys Seele zu tun haben.
»Wann ist Ihre Mutter gestorben?«, fragte sie.
Er drehte seinen Kopf so weit zur Seite, dass er sie in dem Sessel sehen konnte. »Was zum Teufel geht dich das denn an?«
»Auch ich bin ein menschliches Wesen, wie Sie vorhin so anschaulich erklärt haben. Und ich versuche zu verstehen, was Sie so wütend macht. So wütend, dass Sie völlig Fremden so was antun.«
Er drohte ihr mit dem Finger. »Du versuchst überhaupt nichts zu verstehen. Du heuchelst Interesse, um mich einzulullen, damit ich deinem Kind nichts tue, obwohl dich das eigentlich einen Scheißdreck interessiert.«
»Das stimmt nicht.«
»Verdammt.« Er trank noch einen Schluck und schaute sie mit durchdringendem Blick an. »Ich werde dir mal ein kleines Geheimnis anvertrauen, Sonnenschein. Ihr seid gar keine Fremden für mich.«
»Was?«
Auf seinem Gesicht breitete sich ein heimtückisches Grinsen aus. »Geht dir ein Licht auf?«
Karens Blick trübte sich. Sie sank noch tiefer in den Sessel und machte sich auf das Schlimmste gefasst. »Wie meinen Sie das?«
»Dein Mann hat doch in der Universitätsklinik gearbeitet, oder nicht?«
»Er hat in verschiedenen Krankenhäusern gearbeitet.« Das entsprach der Wahrheit, doch die Universitätsklinik hatte Will
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