2414 - Die Bestie Ganymed
zwingen, die Wahrheit zu sagen.
Ja. Die Wahrheit. Denn Null hatte gelernt, seinen Herrn anzulügen.
Der Grund dafür hieß: Überlebensinstinkt.
Zeigte er dem Anatomen, der ihn beständig testete, wie stark und wie ausgeprägt sein Planhirn war, würden Konzig Asmo und seine Kollegen zu verstehen versuchen, wie er in Wirklichkeit funktionierte. Sie würden, wie es ihrem Selbstverständnis entsprach, seine Gehirnschale öffnen und nachsehen, was ihn von seinen Artgenossen unterschied. Als Stück Fleisch würde er enden, dessen fasrige Zusammensetzung in nanostarke Streifchen geschnitten und dessen Gehirntätigkeiten wie der Schaltkreis eines elektrischen Gerätes analysiert werden würde.
Andererseits: Hätte Null von vornherein seine Fähigkeit zum logischen Denken vor den Kolonnen-Anatomen verborgen, hätte man ihn längst entsorgt. Dann wäre er uninteressant für sie gewesen. Ein Abfallprodukt, für das man keine Ressourcen zu verschwenden brauchte.
Null hatte sich bemüht, interessant genug für weitere Versuche zu erscheinen, aber keinesfalls als Musterschüler. Dies war der goldene Mittelweg, der ihm weitere Tage und Stunden an Lebensfrist bescherte. Und Null hatte große Lust am Leben entwickelt.
Trotz all der Qualen, denen er ausgesetzt war, fand er an den ungewöhnlichsten Orten so etwas wie ... Schönheit. Dinge, die ihm gefielen und die ihn reizten, weiter darüber nachzudenken.
Eine Kolonie von Schaben, die in den dunklen Teilen des Bestiariums ein bescheidenes Dasein fristeten, mochte beispielsweise seine Aufmerksamkeit erregen. Trotz der widrigen Umstände schafften es die zehnbeinigen Tierchen, das Überleben ihrer Art ein ums andere Mal sicherzustellen.
Die Arbeiter des hierarchisch aufgebauten Stammes in dessen Zentrum gaben ihr Leben der Gebärkönigin.
Wenn nicht ausreichend Nahrung zur Verfügung stand, opferten sie sich selbst der nimmersatten Herrscherin des kleinen Insektenreiches.
Null lernte: „Der Einzelne ist nichts, das Kollektiv alles."
Auch die Musik, die Konzig Asmo vermehrt einsetzte, während er mit ihm und seinen Artgenossen Experimente anstellte, erregte Nulls Interesse. Sie kündete von Traurigkeit und wurde meist von schrillen Streichinstrumenten getragen. Sie löste Assoziationen in Null aus; er sah weite, offene Decks, in denen er und andere Bestien ein erfülltes Leben im Rahmen der Terminalen Kolonne führten. In einem heiter geführten Wettstreit jagten sie Beute und labten sich an philosophischen Streitgesprächen, die die Überlegenheit der Chaotarchen über die Kosmokraten zum Thema hatten und ...
Die Kolonnen-Anatomen waren zweifelsohne Geschöpfe, deren kühle und berechnende Bösartigkeit unvergleichlich schien. Und dennoch schätzte einer wie Konzig Asmo die Schönheit dieser ruhigen, etwas traurigen Musik.
Ergo: Auch im Kolonnen-Anatomen steckte etwas, mit dem sich Null anfreunden konnte. Etwas, das ihn sympathischer erscheinen ließ.
„Ich würde wer weiß was dafür geben, zu wissen, was sich in deinem Kopf abspielt", unterbrach der Anatom Nulls Überlegungen. „Es wäre schön, könnte ich Antworten von dir erzwingen. Aber die Wesen deiner Art gelten als ausgenommen störrisch. Ihr lasst euch nur schwerlich zur Mitarbeit ... überreden und seid weder mit physischer noch psychischer Gewalt zu überzeugen. In gewisser Weise bin ich also auf deine Mitarbeit angewiesen. Zumindest gilt das, solange du noch lebst."
Er lachte hässlich. „Dein toter Korpus hingegen wird seine Geheimnisse nicht vor mir verbergen können."
Konzig Asmo klopfte mit den Fingern einen stakkatoartigen Rhythmus gegen die Scheibe, die sie voneinander trennte. Die Spitzen filigraner Operationswerkzeuge ragten unter den Nägeln hervor. Der Anatom hatte sie sich selbst implantiert, um seinen Aufgaben besser und direkter nachkommen zu können, wie er es nannte.
„Wusstest du, dass ich sterbe?", fragte er unvermittelt. „Nein? – Nun, in uns Anatomen stecken Krankheitsherde, deren Ausweitung wir von Zeit zu Zeit auf operativem Weg im Zaum halten müssen. Bei meiner letzten Selbstdiagnose musste ich feststellen, dass meine Lebensfrist in nicht allzu ferner Zukunft enden wird. Selbst die massivsten Eingriffe führen kaum noch zu einer Erleichterung."
Neuerlich lachte Konzig Asmo; diesmal klang es heiter und ausgelassen.
„Bösartige Geschwülste breiten sich immer weiter aus. Sie scheinen von einem lebensnotwendigen Organ zum nächsten zu springen. Alles, was ich noch tun
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