244 - Der dunkle Traum
sich dieser Logik zu beugen. Er kramte Proviant aus seinem Beutel. Ja, Aldous’ Sichtweise war absolut nachvollziehbar.
Vermutlich ging es auch gar nicht darum. Seine Wut richtete sich eher gegen sich selbst. Er hatte bei dem Kampf dagestanden wie ein Idiot. Warum hatte ihn das Gemetzel derart mitgenommen, dass es ihm jetzt noch in blutigen Farben vor Augen stand? Früher war er nicht so weich gewesen.
Wurde er – dünnhäutig? Und alt?
Irgendetwas hatte ihn verändert. War es das bequeme Leben in Taraganda, oder hatte es andere Gründe? Rulfan war immer ein tapferer Mann gewesen, der mit weiten Schritten und hocherhobenen Hauptes durchs Leben ging. Blut war ihm ebenso wenig fremd wie Hunger, Schweiß und Tränen. Das alles schien jetzt der Vergangenheit anzugehören.
Aldous stocherte das Feuer an. »Komm zu mir! Ich möchte nicht so alleine hier sitzen!« Der Alte schüttete Cannuspulver in den Wassertopf. Er blickte in das Säckchen und schüttelte es aus. »Das war’s, mehr habe ich nicht…«, murmelte er. Er knautschte das Säckchen zusammen und verstaute es in seinem Wanderbeutel. »Komm zu mir, Rulfan!«
Der Albino erhob sich und ging um das Feuer herum. Er hockte sich neben Aldous in den Schneidersitz. Obwohl der Schamane auf einem Stein saß, waren ihre Köpfe auf gleicher Höhe.
»Sieh mich an, Rulfan!« Aldous nahm seine Sonnenbrille ab. »Du bist ein erwachsener Mann und fühlst dich doch wie ein Kind, ist es so?«
Aldous hat recht! , erkannte Rulfan. Ich verändere mich. Genau genommen frage ich mich, was mich geritten hat, diese weite Reise auf mich zu nehmen. Alles nur, um Matts Sohn zu töten? Habe ich das Recht dazu? Nein – ich bin Matthews Freund und habe sein Urteil zu respektieren!
»Du bist verwirrt.« Aldous faltete die Brille zusammen und betrachtete das antike Modell sinnierend. »Dir gehen viele Gedanken durch den Kopf…«
Rulfan nickte und blickte zu Boden.
»Sieh mich an, Rulfan!«
Rulfan befolgte den Befehl.
Aldous sagte mit leiser Stimme: »Du bist schwer auf den Kopf gestürzt. Daraufhin hattest du schlimme Träume…« Er ließ die Worte in der plötzlich eintretenden Dunkelheit schweben wie Glühwürmchen. Seine Augen wurden vom Feuer angeleuchtet, zwei einsame Lichter vor einem imposanten Sternenhimmel. »Diese Träume haben dich verändert. Du hast mir viel von dir berichtet; Dinge, die du mit dir herumträgst, die dich seit mehr als fünfzig Jahren quälen. Ich bin dein Freund, Rulfan, dein einziger, wirklicher Freund! Und doch bist du unzufrieden mit mir – obwohl meine Winda uns das Leben gerettet hat. Einen Freund für seine Dienste zu mahnen, ist Undank. So soll es zwischen uns nicht sein. Denke immer daran, Rulfan: Ein verstoßener Freund kann schlimmer sein als ein Feind…« Aldous verharrte und musterte Rulfan mit zusammengekniffenen Augen. »Oder möchtest du das?«
»Nein…«, murmelte Rulfan. Schlimmer als ein Feind, hallte es in ihm wider.
»Gut so, Rulfan! Du wirst also mit mir zur Wolkenstadt gehen.«
»Ja…«
»Und dort wirst du Daa’tan töten.«
»Ja…«
»Du wirst ihn töten und danach zu deiner jungen schönen Lay zurückkehren und glücklich mit ihr sein und dankbar, in deinen späten Jahren eine so schöne und junge Frau lieben zu dürfen.«
»Ja…«
»Du wirst nicht gegen mich aufbegehren, wirst alles tun, was in deiner Macht steht, um deine – und meine! – Träume zu verwirklichen. Denke immer daran: Erst die Träume, dann das Ziel…«
»Erst die Träume, dann das Ziel«, echote Rulfan. Aldous’ Gesicht verschwamm im Flackern der Flammen. Die Haut des Schamanen wurde fast durchsichtig, die Tätowierungen in seinem Gesicht schienen zu leben. Schlangen reckten ihre Häupter, Spiralen drehten sich, und jählings fing die Haut des Schamanen zu leben an. Blaue Wirbel, kleine Stürme, aus denen Drachen stiegen. Schiffe, voll aufgetakelt, kämpften gegen haushohe Wellen an. Ornamente umkreisten sich wie bizarre Sterne, Fabelwesen reckten sich und erwachten aus dem Schlaf. Eine Sternschnuppe fiel hinter Aldous in die Ebene und ein Leepard brüllte kämpferisch.
Rulfan spürte sich. Es schien, als zerreiße das Lächeln in seinem Gesicht alle negativen Schwingungen. Das war ein befreiendes Gefühl. Es war wie… frei atmen! Er war unendlich zufrieden. Ja, hier war alles gut. In Aldous’ Gegenwart fühlte er sich sicher, jung und auf erregende Weise aktiv. Er wusste jetzt, warum er unterwegs war und dass alles, alles richtig
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