245 - Geisterstadt Washington
jetzt rein und ihr werdet uns nicht aufhalten!«
***
Nicht weit vom Zugang zum U-Bahnhof spitzten sich die Dinge für die Bürger Waashtons wesentlich unspektakulärer zu. Hinter der unscheinbaren Tür eines schmalen Seitengangs blickte Bruder Faith unsicher um sich. So unwirklich wie der Waschraum, in dem er sich befand, so unwirklich erschien ihm der Mann, der ihn hierher beordert hatte: Bruder Sorrow. Eingemummt in einen dunklen Kuttenmantel, war kaum dessen Nasenspitze zu sehen.
Und das war mehr, als die Machthaber Waashtons – die Führungsspitze des Weltrats und der Hohe Richter Black – von Bruder Sorrow bislang zu sehen bekommen hatten. Sie wussten nicht einmal, dass er existierte. Seit dem Tod der Rev’rends Torture und Rage hatte er sich im Hintergrund gehalten; seine Ohren und Augen waren Faith und der inzwischen verschiedene Mercy gewesen, die er selbst zu Mitgliedern der Bruderschaft berufen hatte.
Bruder Faith spürte, wie der stechende Blick des Anderen auf ihm ruhte, während er näher kam.
»Ich sage es dir nur noch einmal: Wir erfüllen die letzten Anweisungen von Rev’rend Torture und Rev’rend Rage.« Sorrows Stimme klang, als ob sie aus einem Grabloch käme. »Wir machen Waashton zur Stadt Gottes und töten ihre ungläubigen Anführer.«
»Aber die Stadt liegt in Schutt und Asche«, unterbrach ihn Faith händeringend. »Und wie willst du mit einer Handvoll Männer die Führungsriege töten? Hier, im Pentagon-Bunker, wo es von Soldaten nur so wimmelt?«
»Überlass das mir! Kümmere du dich um unsere verbliebenen Anhänger und um die, die sich uns schon bald anschließen werden.« Sorrow stand jetzt so dicht vor ihm, dass Faith seinen sauren Atem riechen konnte. »Die Zeit ist gekommen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Tod den Ungläubigen. Tod den Mördern von Bruder Mercy! Mein ist die Rache, spricht der HERR. Ich werde sein Werkzeug sein. Ich bin jetzt der neue Inquisitor!«
Brüder Faith gab auf. Er nickte seinem Gegenüber ergeben zu und faltete die Hände über seiner Brust. Punktgenau in der Mitte des weißen Kreuzes auf seinem Lederponcho. Was sollte er noch sagen? Die letzten beiden Rev’rends selbst hatten vor ihrem Aufbruch in die Appalachen Bruder Sorrow als ihren Stellvertreter in Amt und Würden erhoben. Er war nun der Letzte der Rev’rends von Waashton. Er hatte das Recht, sich Inquisitor zu nennen, und Faith musste sich ihm unterordnen – ob es ihm passte oder nicht.
Während sein Gebieter sich einem der Pissoirs zuwandte, wanderten Bruder Faith’ Augen über die verschmierten Wände des kleinen Waschraumes. Linien und Kleckse in den absonderlichsten Formen und Farben verunstalteten die verblichenen Kacheln. Irgendwo dazwischen entdeckte der Gotteskrieger ein paar Sätze in blutroten Lettern: Sonne ist eine Illusion, stand da, und daneben Die Freiheit starb gestern, es lebe das Heute! Darunter ragte ein zersplittertes Waschbecken aus der Wand. Das defekte Deckenlicht flackerte in unregelmäßigen Abständen über dem beklemmenden Ambiente. Der Geruch nach Urin und moderigem Wasser tat ein Übriges, sich unwohl zu fühlen.
Doch egal an welchem Ort dieses Gespräch stattgefunden hätte, der hagere Novize fühlte sich in Sorrows Gegenwart generell unwohl. Oft genug hatte er in den letzten Monaten den neuen Inquisitor in Ausübung seines Amtes erlebt: Er fand stets grausame Mittel und Wege, Bekenntnis- oder Gehorsamsverweigerer unter den eigenen Leuten auf den rechten Pfad zu führen. Wenn es um Ungläubige ging, wurde er gar zum gnadenlosen Killer im Dienste des Herrn. Faith senkte den Kopf. Ob ihm seine Methoden gefielen oder nicht, ob es der richtige Zeitpunkt war oder nicht: Er und Sorrow verfolgten dasselbe Ziel.
Nachdem der Inquisitor sich erleichtert hatte, kam er wieder an Faith’ Seite. »Tu, was ich dir aufgetragen habe, und halte mich auf dem Laufenden!« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zur Tür und zog sie ein Stück weit auf. Von draußen hallten Stimmengewirr und Rufe in den engen Raum. Dann folgte Stille. Der Inquisitor war gegangen.
»Ja, Bruder Sorrow…«, flüsterte Faith ihm nach. Schwer stützte er sich auf den Rand eines der Waschbecken. Eine schwarze Kruste aus Kalk, Dreck und Haaren starrte dem Gottesmann entgegen. »… auch wenn ich den Zeitpunkt für ungünstig halte.« Als er seinen Kopf hob, sah er in dem fast blinden Spiegel die verzerrten Konturen seines Gesichts: schmal, bleich, mit glanzlosen Augen hinter den schimmernden
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