245 - Geisterstadt Washington
winzigen Augenblick lang überlegte er, was passieren würde, wenn er ihnen eine ganz andere Wahrheit kundtun würde. Eine Wahrheit, die ihn nachts nicht mehr schlafen ließ und ihn schlimmer quälte als der lebensbedrohliche Zustand seiner Frau: »Ich, Louis Stock, habe die Sprengladung im Fordtheater gezündet. Ich bin schuld, dass das Ding noch in Freiheit ist. Ich bin schuld, dass wir alle hier unten gefangen sind und bald jämmerlich ersticken werden.« Unsicher blickte er in die Runde. Sie würden mich lynchen, dachte er und ließ es bleiben.
Stattdessen drängte er sich wortlos an den Umstehenden und seinem Leibgardisten vorbei und hastete durch die geöffneten Türflügel der Krankenstation. In seinem Rücken hörte er die Leute murren. »Beruhigt euch wieder«, versuchte Reynolds sie zu beschwichtigen. »Der Bürgermeister hat jetzt andere Sorgen.«
Am Krankenbett seiner Frau angekommen, ließ Stock sich erschöpft auf einen Stuhl davor sinken. Sein Blick glitt über die Salbenverbände, die Ellis verätzten Körper bedeckten. Nur ihr Gesicht war verschont geblieben. Unruhig zuckten die Lider über ihren geschlossenen Augen. Louis beugte sich vor.
»Sei froh, dass du schläfst.« Vorsichtig schob er seine Linke unter ihre verbundene Hand. »Dein Mann ist ein Feigling, Elli«, flüsterte er. »Ein erbärmlicher Feigling… und jetzt heult er auch noch…« Umständlich tastete er mit der Rechten in seiner Jackentasche.
Doch statt seinem Schnäuztuch fischte er nur ein zerknülltes Stück Papier heraus. Einen vergilbten Zettel, den er neugierig entfaltete. Vielleicht eine alte Notiz von Elli, dachte er. Doch die Zeilen waren nicht in der Handschrift seiner Frau verfasst. Und ihr Inhalt ließ ihn beinahe die Fassung verlieren: »Ich weiß, was du getan hast, Scheißkerl!«, lauteten sie.
***
Yanna Hitking strich über die frische Unterlage, die sie auf die Liege gezogen hatte. Versonnen schaute sie sich in dem Untersuchungsraum der angrenzenden Krankenstation um. Nichts erinnerte mehr an das Chaos, das bis vor einer Stunde hier noch geherrscht hatte: Der Müll von leeren Spritzenkanülen, aufgerissenen Medikamentenpackungen und unzähligen Papiertüchern war weggeräumt, die verdreckten Nierenwannen waren ausgewaschen und desinfiziert und sämtliche Blutproben im Labor. Selbst den Boden hatte sie eigenhändig geschrubbt, nachdem drei der zwölf neuen Patienten es nicht mehr geschafft hatten, eine der Wannen zu benutzen und sich einfach an Ort und Stelle erbrachen.
Da die Leute alle aus derselben Unterkunft kamen, vermuteten die Ärzte zunächst, es handele sich um eine Lebensmittelvergiftung. Doch dann hatten sie die merkwürdigen Flecken an Füßen und Armen der Kranken entdeckt: Ausschlag! Außerdem klagten die Betroffenen über Kopfschmerzen und einige von ihnen hatten leichtes Fieber. So wuchs der Verdacht, dass sie an der gleichen Infektion wie Dirty Buck leiden könnten. Auch wenn dessen Krankheitsverlauf wesentlich dramatischer verlief. Doch es wusste ja keiner, wann und wie es bei ihm begonnen hatte. Selbst seine Freundin Marisar konnte nicht viel dazu sagen.
Bei dem Gedanken daran schüttelte Yanna entrüstet den Kopf: Hätte sie einen Freund, würde ihr so etwas nicht entgehen. Beim jungen Captain Roots kannte sie jede Sommersprosse seines schönen Gesichts, den Verlauf der sternförmigen Narbe am Handknöchel seiner Rechten und jedes einzelne Fältchen um seine braunen Augen. Doch Percival Roots war nicht ihr Freund. Verschämt blickte die ehemalige Diebin und inzwischen überzeugte Rev’rend-Anhängerin zu Boden.
Was wohl Bruder Faith sagen würde, wüsste er von ihren Gedanken? Vor wenigen Minuten war er noch hier gewesen, um sich nach seinen Schäfchen zu erkundigen, denn fast alle der neuen Patienten waren Rev’rend-Anhänger. Nachdem ihn die Ärzte mit Auskünften auf den morgigen Tag vertröstet hatten, hatte er Yanna beiseite genommen und sie um eine kleine Gefälligkeit gebeten.
Reiß dich zusammen, Yanna Hitking!, ermahnte sie sich selbst. Es gab jetzt wirklich Wichtigeres zu tun, als sich mit der Unzulänglichkeit von Bucks Freundin oder den Sommersprossen von Percival Roots zu beschäftigen. Ein entschlossener Ausdruck glitt über das Gesicht der kleinen rothaarigen Frau. Energisch nahm sie die große Teekanne und stieß die Tür in den angrenzenden Krankensaal auf.
Schwacher Lichtschein erleuchtete den rechteckigen Raum. Hinter den Wandschirmen in seiner Mitte hatte man die
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