247 - Der Kerker der Pandora
Glasfenster. Das Ganze ähnelte mehr einer Hütte als einem Fluggefährt.
Plötzlich stutzte sie. Bewegte sich da nicht jemand neben der Gondel? Sie kniff die Augen zusammen. Bei dem Gestänge, an dem der Ballon hing, glaubte sie den Umriss eines Kopfes zu sehen. Und jetzt hörte sie auch noch raschelnde Schritte. Wollte sich da jemand am Eigentum des Prinzen vergreifen? Die Halbwüchsigen aus dem Nachbardorf fielen ihr ein. Manchmal übertrieben sie es mit ihren so genannten Streichen. Erst kürzlich hatten sie des Nachts in Spekgulf die Koppel der Tsebras geöffnet. Doch die Hunde schlugen rechtzeitig an und einige Männer nahmen sich die Lümmel vor.
In Spekgulf kommt nichts weg! Die Wäscherin stemmte ihre Hände in die Hüften. »Hey, ihr da! Macht, dass ihr fort kommt, aber sofort!«, rief sie. Eine Weile geschah nichts. Dann trat eine Gestalt hinter der Gondel hervor. Ein Mann. Hoch gewachsen und mit breiten Schultern. Das Licht war inzwischen so diffus, dass Rosalie nur seine Umrisse erkennen konnte. Doch wie er so dastand, mit leicht gesenktem Kopf, vermutete sie, den Prinzen vor sich zu haben. Victorius wollte doch nicht etwa schon aufgeben? Sich einfach davon stehlen wie ein Dieb? Na warte, nicht solange ich es verhindern kann.
Sie raffte die Röcke und lief los. »De Rozier, was machen Sie hier? Sind Ihnen die Stufen vor Salimatas Haus zu unbequem geworden?« Den Blick auf die reglose Gestalt des Prinzen gerichtet, achtete sie nicht auf den Weg. Warum sollte sie auch? Hier gab es nur ebenen Wiesengrund und weiter unten den weichen Sand des Strandes. Darum war ihre Verwunderung groß, als sich nach wenigen Schritten ihre Füße in einem Gestrüpp aus Wurzeln verfingen. Sie strauchelte, fing sich wieder und blickte fluchend zu Boden.
Überall knöchelhohe graue Flechten. Woher kam plötzlich all dieses Unkraut? Ungeduldig hob sie erst das eine, dann das andere Bein. Doch das klebrige Kraut hatte sich in die Riemen ihrer Sandalen geschlungen. »Das gibt es doch nicht. Was ist das bloß?« Irritiert blickte sie in Victorius’ Richtung, der immer noch reglos neben dem Luftschiff verharrte. »Was stehen Sie denn da so rum? Kommen Sie her! Ich brauche Ihre Hilfe!«, rief sie empört. Doch der Kerl reagierte nicht. Gleichzeitig spürte Rosalie, wie das Geflecht an ihren Waden hoch kroch.
Schlangen!, dachte sie erschrocken. Angewidert schüttelte sie die Beine, hüpfte und zappelte. Schließlich bückte sie sich und griff nach ihnen.
Das waren keine Schlangen. Das Zeug fühlte sich warm an und war unnachgiebig wie Draht. Und es roch nach Pilzen. Panisch zerrte die Wäscherin an den Schlingen, die jetzt wie Tentakelarme ihre Finger, Hände und Arme umwickelten. »Victorius!«, keuchte sie und hob das Gesicht.
Die Gestalt, die eben noch tatenlos neben der Roziere verharrt hatte, stand nun eine Armlänge entfernt vor ihr. Weder sah sie aus wie der Prinz, noch wie sonst irgendein Wesen, das Rosalie in ihrem bisherigen Leben gesehen hatte. Es war ein grauer Geist. Ein Dämon, dessen Körperkonturen aus wabernden Fäden und Flechten bestanden. Augen wie dunkles Glas. Fingerglieder wie faserige Ruten, die sich jetzt auf ihre Stirn zu bewegten. Der Wäscherin wurde schlecht vor Angst. Sie wimmerte und weinte. Von den tödlichen Fesseln bis zum Hals umschlungen, sackte sie auf die Knie.
Als sich die Finger des Wesens in ihre Stirn bohrten, dachte sie an Spekgulf: all die Freunde und Bekannten auf dem Marktplatz. Josh bei der Tsebrakoppel. Salimata und ihr Kind. Der Prinz auf der Veranda des Ratshauses. Josh. Josh. Sie spürte den leichten Wind auf ihrem Gesicht und hörte das Plätschern der Wellen und das Rascheln des Schilfes. Dann verebbten die vertrauten Geräusche. Es wurde dunkel und still.
***
Wimereux-à-l’Hauteur
»Sie kommen aus der Erde.« »Sie kommen aus dem Wald.« »Sie sind plötzlich da gewesen; keiner weiß, woher sie kamen.«
Mit großen Augen blickten die Abgesandten der umliegenden Dörfer von Prinz Akfat zu Hauptmann Lysambwe, dem Kommandanten der Wachmannschaft. Sie saßen um den runden Tisch im Arbeitszimmer des Prinzen. Während der Kommandant ihre Gläser mit Wein nachfüllte, nickte Akfat bedächtig. »Verstehe«, sagte er mit besorgter Stimme. Tatsächlich aber verstand er gar nichts. Seit einer halben Stunde nun berichteten die drei Männer von unheimlichen Wesen, die ihre Dörfer heimsuchten, und merkwürdigen Pilzgewächsen, die im Umland wucherten. Doch ihre Angaben waren
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