248 - Entfesselte Gewalten
Laut aus dem Gewimmel dort unten.
Im Licht des Mondes und der Sterne sahen die Umrisse der Ruine aus wie die einer Felsplatte, die sich schräg durch den Waldboden nach oben geschoben hatte.
Das habe ich vollbracht, dachte Thgáan, und tiefe Befriedigung erfüllte seinen Geist. Ich habe diese große Wolkenstadt vom Himmel gefegt…
War es Glück, was er empfand? Das Glück, vollbracht zu haben, wozu seine Herren ihn einst geschaffen hatten? Wie lange hatte er es nicht mehr empfunden, dieses Glück? Viel zu lange! Thgáan verstärkte seinen Schwingenschlag, zog engere Kreise und stieg dem Mond entgegen.
Die Stimme in seinem Hirn schwieg. Doch sie war gegenwärtig; das Wesen dessen, dem sie gehörte, war gegenwärtig. Grao'sil'aana. Er war zufrieden mit Thgáan. Der Lesh'iye spürte es, und es steigerte sein Glücksgefühl noch. Es war schön, den Sinn seines Daseins erfüllen und erfahren zu können.
Thgáan spähte zur Mondsichel hinauf. Der Mond war allein. Der Mond gehörte und gehorchte niemandem. Der Mond tat ihm leid.
(Komm, Thgáan.)
Plötzlich raunte sie wieder durch seinen Schädel, die vertraute Stimme. Thgáan lauschte.
(Komm zu mir, ich brauche dich.)
Thgáan hörte auf, die mächtigen Schwingen zu bewegen. Segelnd kreiste er über dem Dschungel, dem Seeufer und der abgestürzten Stadt und sank der Erde entgegen. Alle seine Sinne richtete er auf den Boden tief unter ihm.
(Komm zu mir, Thgáan. Wir fliegen weg von hier.)
Endlich konnte er die Stelle lokalisieren, von der aus die vertraute Stimme ihn rief. Noch einen letzten Blick gönnte er dem einsamen, nutzlosen Mond, dann legte er die Schwingen an und stürzte sich in die Tiefe. (Ich komme zu dir, Grao'sil'aana!)
Zweihundert Meter über den Wipfeln der Urwaldriesen breitete er die Schwingen aus und fing seinen Sturzflug ab. Er wollte vermeiden, seinen Herrn und dessen Begleiter durch Böen aufgewirbelter Luft zu erschrecken oder gar zu schädigen. Lautlos zog er Schleife um Schleife und näherte sich so allmählich dem Waldboden.
Grao'sil'aana und sein Begleiter standen am Seeufer. Der Daa'mure presste sich einen Kristallsplitter gegen die Stirn; durch ihn nahm er Verbindung auf. Thgáan ging im Schilf nieder. Sein Herr und der Primärrassenvertreter stiegen erst auf seine Schwingen und dann auf seinen Rücken.
(Flieg los, Thgáan), befahl die vertraute Stimme. (Flieg nach Osten. Wir haben viel zu tun…)
***
Rulfan hatte Fieber. Seine Zunge fühlte sich an wie ein getrockneter Haufen Wakudadung. Der Durst brannte in seiner Kehle, wühlte in seinen zu einem Klumpen verbackenen Eingeweiden.
Lay kauerte neben ihm. Sie hatte ihn und sich selbst mit Lianen im Geäst festgebunden, damit sie nicht abstürzten, wenn die Schwäche erst ihre Glieder lähmte. So weit war es längst. Rulfan hatte nicht einmal mehr die Kraft, ihre Hand zu halten.
Schon seit Stunden hatten sie kein Wort mehr gewechselt. Sprechen? Unmöglich. Inzwischen war es ihm auch gleichgültig, ob er abstürzte oder hier oben in der Baumkrone starb.
Am ersten Tag hatten sie noch Ausbruchspläne geschmiedet. Am frühen Morgen in der Dämmerung wollten sie vom Baum klettern und versuchen, den Schamanen als Geisel zu nehmen. Doch als dann die Nacht allmählich dem Morgengrauen wich, sahen sie die Umrisse Hunderter von Kriegern unter dem Mammutbaum warten. Zunächst glaubte Rulfan, die Waldwilden hätten sich Verstärkung geholt, und bei Sonnenaufgang erwies sich seine Vermutung als richtig – doch was für eine Verstärkung: Weit über zweihundert Pilzphantome in Menschengestalt lauerten gemeinsam mit den Wilden im Wurzelwerk des Baumes auf sie.
Inzwischen fragte er sich, worauf sie warteten, und warum sie nicht einfach zu ihnen heraufkletterten. Es wäre für die Wilden und die Pilzwesen ein Leichtes gewesen, sie aus dem Geäst des Mammutbaumes zu pflücken. Nicht einmal der Zilverbak hätte noch Widerstand leisten können.
Gegen Mittag des zweiten Tages hatte Zarr versucht, durch das Netz aus Pilztentakel und -fäden zu brechen, das die Krone des Mammutbaumes inzwischen ringsum einhüllte. Vergeblich. Das Pilzgewucher hatte ihn am Hals gepackt und zugedrückt. Wäre Lay ihm nicht mit Rulfans Säbel zur Hilfe gekommen, hätte der Pilz den Gorillamutanten erwürgt und verdaut.
Ein Gutes hatte der Ausbruchsversuch dennoch gehabt: Chira hatte die Gelegenheit genutzt und war über die Kämpfenden hinweg gesprungen. Durch eine schmale Lücke, die Zarr ins Pilznetz gerissen hatte,
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