25 - Ardistan und Dschinnistan II
voranschreitenden Vorsitzenden nach dem Saal der lebenden Dschema. Dort stieg Abu Schalem nach seinem hohen Stuhl empor, legte das Schuldbuch auf den Tisch vor sich hin und setzte sich. Der Mir war seinen Voreltern wie im Traum gehorsam gewesen! Er hatte sich von ihnen nach den drei Plätzen der Angeklagten führen lassen und setzte sich zwischen ihnen in einer Weise nieder, als ob er geistig vollständig abwesend sei. Und wir andern? Wir Richter? Ich kann nur von mir sprechen, und da muß ich gestehen, daß ich mich ganz und gar nicht als Richter fühlte, sondern als ein Mensch, der in Beziehung auf die gegenwärtige Situation und auf seine heutige Aufgabe überhaupt nicht wußte, woran er war. Ich glaube fast, ich wäre in meiner Verblüffung draußen stehengeblieben, wenn Merhameh nicht meinen Arm gefaßt und mir zugeflüstert hätte:
„Willst du dich vergessen, Effendi? Komm, und sammle dich!“
Sie begleitete mich aus dem einen Saal in den anderen und ließ mich nicht eher los, als bis ich vor dem Platz stand, auf welchem der Zettel mit meinem Namen lag. Dann begab sie sich zu ihrem Vater. Ich glaube nicht, daß irgendeiner von uns innerlich klarer gewesen ist, als ich es war. Ich hatte zunächst nur den einen Gedanken, daß ich unbedingt erfahren müßte, was es mit der Rückkehr dreier längst Verstorbener zum Leben für eine Bewandtnis habe. Es kostete mich die größte Anstrengung, diesen Gedanken so ganz beiseite zu schieben, daß ich fähig wurde, zunächst doch wenigstens den Anforderungen des Augenblicks gerecht zu werden. Ich nahm mich also zusammen und redete mir ein, den Vorsitzenden als einen Mann betrachten zu müssen, mit dessen gegenwärtigem Verhalten, nicht aber mit dessen längst vergangenem Vorleben ich mich hier zu beschäftigen habe.
Er saß jetzt ganz genau wieder so da, wie er drüben im andern Saal gesessen hatte, vollständig unbeweglich und die Augen unverrückt auf die drei Angeklagten gerichtet. Aber als anzunehmen war, daß die Aufregung, in der wir uns alle befunden hatten, einer wenigstens etwas ruhigen Stimmung gewichen sei, richtete er seinen Blick der Reihe nach auf uns, gab mit der Hand eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit und sprach:
„Die Dschema der Lebenden ist eröffnet! Sie übe Gerechtigkeit; die Gnade sendet uns Gott!“
Hier machte er eine Pause und fuhr dann fort:
„Angeklagt ist Schedid el Ghalabi, der jetzige Mir von Ardistan. Mitangeklagt sind seine beiden Vorväter, mit ihm die drei letzten Herrscher des Reiches Ardistan. Verteidiger ist Abd el Fadl, Fürst von Halihm. Verteidigerin ist Merhameh, Prinzessin von Halihm. Sooft ein Mir von Ardistan, in diesem Raum Angeklagter war, hat stets ein Abd el Fadl von Halihm und eine Merhameh von Halihm sich seiner angenommen. So auch heut!“
Und wieder machte er eine Pause, sah uns der Reihe nach, so wie wir saßen, prüfend an und sprach dann weiter:
„Und sooft über einen Mir von Ardistan hier ein Gericht versammelt war, hatte sich einer der Richter zu melden, um sich bereit zu erklären, die Anklage zu übernehmen. So frage ich auch heut: Wer von euch will Ankläger sein?“
Es erfolgte keine Antwort. Wir schwiegen alle.
„Ich frage zum zweiten Mal“, erklang es aus dem Munde Abu Schalems.
Da stand der Dschirbani auf und sagte:
„Es wird sich keiner von uns bereiterklären, die Anklage zu erheben. Auch wir sind Sünder, nur wer ohne Sünde ist, der klage an!“
Hierauf setzte er sich wieder nieder. Da ging es über das Gesicht des Vorsitzenden wie ein lieber, klarer, warmer Sonnenschein, doch war der Ton seiner Stimme sehr ernst, indem er sagte:
„Wenn sich kein Ankläger findet, löst sich die Dschema auf, und unser Schicksal bleibt auch ferner unentschieden. Nur dreimal darf ich fragen. So frage ich also zum dritten und letzten Mal: Wer von euch will Ankläger sein?“
Da stand einer auf, aber keiner von uns, sondern es war der Mir, er selbst. Er sprach:
„Ich kann nicht dulden, daß mein und euer Schicksal unentschieden bleibe. Es ist ein Ankläger da, der strengste, den es gibt!“
„Wer?“ fragte Abu Schalem.
„Ich, Schedid el Ghalabi, Mir von Ardistan! Ich hoffe, nicht zurückgewiesen zu werden, obgleich ich keiner der geladenen Richter bin. Niemand kennt meine Sünden so gut und so genau wie ich selbst!“
Ein zweiter, fast noch wärmerer Sonnenstrahl ging über das Gesicht des Vorsitzenden. Er antwortete:
„Die Selbstanklage ist Menschheitsideal. Noch keiner von allen, die hier
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