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25 - Ardistan und Dschinnistan II

25 - Ardistan und Dschinnistan II

Titel: 25 - Ardistan und Dschinnistan II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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einverstanden!“ rief es aus unser aller Mund. Darauf wandte sich Abu Schalem an Abd el Fadl und Merhameh:
    „Hat die Güte oder die Barmherzigkeit noch etwas zu fragen, zu erwähnen oder hinzuzufügen?“
    „Nein, nein!“ antworteten sie.
    „So ist mein Urteil anerkannt, bestätigt und zum Urteil der Dschema erhoben! Dieses Schuldbuch sei dein! Nimm es hin, doch vernichte es nicht, sondern hebe es dir und den Deinen heilig auf, damit ein jeder von ihnen wisse, welche eine ungeheure Last er auf sich nimmt, sobald er gegen dich und dein Versprechen und also gegen Gott und seine Menschheit handelt! Die Mitternacht ist vorüber! Licht nicht nur über den Sternen, sondern Licht auch hier auf Erden! Nicht nur Gott allein ist barmherzig, sondern auch der Mensch hat es zu sein! Die Dschema löst sich auf. Ich grüße euch!“
    Er nahm das Buch und stieg von seiner Erhöhung herab, ging zwischen uns hindurch bis hin zum Mir, gab es ihm und schritt dann weiter, langsam, feierlich und ohne sich nach uns umzusehen. Wir blieben nicht länger als wohl eine Minute stehen, um uns zu sammeln; dann folgten wir ihm, hinaus in den Saal der ‚Dschema der Toten‘. Dort war es dunkel; die Lichter brannten nicht mehr. Aber von daher, wo es nach dem hochstehenden Sessel Abu Schalems ging, erklang seine Stimme:
    „Ihr, die ihr nicht ohne Kerzen sehen könnt, brennt sie euch an!“
    Wir taten es, doch reichten einige allein nicht aus, und erst als viele brannten, drang ihr Licht bis zu ihm hinauf. Bei ihrem flackernden Scheine sah es ganz so aus, als ob er sich erst noch rühre, dann aber saß er still, so still und unbeweglich, wie er stets gesessen hatte. Wir andern hätten wohl gern eine nähere Untersuchung seines Körpers veranstaltet, doch hielt uns eine leicht begreifliche Scheu davon zurück. Aber der Mir, um den es sich hier in allem handelte, und der zu so einem Schritt gewiß berechtigter war als wir, betastete seinen Vater und seinen Großvater, die genau wie vorher auf ihren Plätzen saßen, sehr sorgfältig, versuchte, ihre Hände und Arme zu bewegen, und sagte dann:
    „Sie sind tot, vollständig tot, auch wieder kühl, fast kalt! Aber als sie neben mir saßen, fühlte ich ganz deutlich ihre Wärme!“
    Hierauf stieg er zu Abu Schalem empor, um dasselbe auch bei ihm zu tun. Es führte auch zu demselben Resultate.
    „Auch tot! Ganz ohne jede Spur von Leben!“ berichtete er. „So, wie er jetzt dasitzt, kann er es unmöglich sein, der die Dschema geleitet und so wohlüberlegte, tiefsinnige Worte gesprochen hat. Das ist ganz unmöglich!“
    „Und doch ist er es gewesen!“ behauptete der Scheik der Tschoban. „Ich sah es ganz deutlich, wie er dort, wo du jetzt bei ihm stehst, hinaufkam und sich langsam niedersetzte. Er ist lebendig gewesen und nun wieder tot! Ich weiß es genau. Ich kann es bezeugen!“
    In diesem Augenblick wurde draußen die Stunde angeschlagen, und der Muezzin rief mit halb singender Stimme:
    „Nach Mitternacht! Die siebente und die erste Stunde für alle Sterblichen. Qual auf der Erde; Seligkeit nur im Himmel. Der Mensch sucht Trost bei der Hoffnung, aber erfüllen kann nur Gott allein!“
    Da stieg der Mir wieder von der Erhöhung herab und griff nach dem einstweilen weggelegten Schuldbuch, um es mitzunehmen. Wir löschten die Lichter aus und entfernten uns. Es war zwischen unserem Kommen und Gehen genau eine Stunde verstrichen. Wir alle waren still. Keiner sagte ein Wort. Kaum, daß wir uns „Gute Nacht“ wünschten, als wir auseinandergingen. Und als wir in die geräumige und wohlausgestattete Stube kamen, in der ich mit Halef wohnte, bat mich dieser, ohne daß ich ihm Veranlassung dazu gegeben hatte:
    „Schweig, Sihdi, schweig! Rede nicht! Es klingt etwas in mir. Das ist kein Lied, sondern eine Predigt; die darf ich mir nicht unterbrechen, nicht stören lassen. Es ist wahr: Mitternacht ist vorüber, wirklich vorüber! Ja, es wird Tag, es wird Tag!“
    Ich legte mich nieder, ohne ihm zu antworten. Auch in mir erklangen Stimmen. Ich hörte sie noch lange, lange, und lauschte ihnen, bis der Schlaf sie mir oder, vielleicht richtiger, mich ihnen entzog.
    Am andern Morgen wurde ich mit Halef eingeladen, das Frühstück bei dem Mir und seiner Familie einzunehmen. Auch der Dschirbani war geladen. Er kam. Sodann, als diese Frühmalzeit vorüber war, stellte sich der Schech el Beled von El Hadd ein, der uns bat, ihn auf die Spitze des Tempels zu begleiten; er habe uns etwas sehr Wichtiges zu zeigen.

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