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25 - Ardistan und Dschinnistan II

25 - Ardistan und Dschinnistan II

Titel: 25 - Ardistan und Dschinnistan II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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still, ergriffen. Abd el Fadl, Merhameh und der Schech el Beled sagte gar nichts. Der Scheik der Tschoban sprach dafür um so mehr. Er wollte alles mögliche wisse, um seiner Pflicht, die ihm sehr am Herzen lag, Genüge leisten zu können. Dabei hatte er wohl keinen Begriff von der eigentlichen großen Bedeutung der heutigen Mitternacht. Für ihn handelte es sich gewiß nur um ein abergläubisches Schamanenspiel mit den Leichen der Verstorbenen. Aber das sagte er nicht, ebensowenig wie auch alle die andern etwas über ihre persönliche, innerliche Meinung verlauten ließen. Doch, mochte ein jeder denken, was und wie er wollte, in dem einen stimmten sie gewiß alle überein, nämlich, daß es sich um das Wohl oder Wehe des Mir und seines ganzen Geschlechtes handele, und die Erwartung, was er tun werde, war so gespannt, daß beim Abendessen keiner von ihnen zulangte und nur diejenigen etwas genossen, die an der Dschema nicht beteiligt waren.
    Es war der Befehl erteilt worden, daß genau eine Stunde vor Mitternacht sich jedermann zur Ruhe gelegt haben müsse. Die Stunden wurden nämlich angesagt, um der Tschoban willen, die fast alle Mohammedaner waren und ihre regelmäßigen Gebete nicht versäumen durften. Es waren dazu Gebetsbretter vorhanden, die allstündlich angeschlagen wurden.
    Ich gestehe aufrichtig, daß auch ich mich in sehr ungewöhnlicher Spannung befand. Die Gründe hierzu brauche ich wohl nicht aufzuführen; sie ergeben sich aus den Verhältnissen und Ereignissen ganz von selbst. Als nach europäischer Zeiteinteilung elf Uhr geschlagen wurde, herrschte rundumher die tiefste Ruhe. Eine halbe Stunde später ging ich mit dem Mir nach der Tür des Vorzimmers, aus dem man in die ‚Dschema der Toten‘ kam. Er war nicht unruhig, sondern still und gefaßt. Die anderen hatten sich schon eingestellt und warteten auf uns. Ich öffnete. Wir traten ein und zündeten einige Kerzen an, um uns in den großen Saal der ‚Dschema der Toten‘ zu leuchten. Dort steckten wir die Lichter sämtlicher Kandelaber an und taten dasselbe dann auch draußen in der ‚Dschema der Lebenden‘. Da lagen noch alle Zettel, so daß ein jeder wußte, wo er seinen Platz zu suchen hatte. Die Sitze waren alle leer. Wir gingen in die ‚Dschema der Toten‘ zurück, wo Abu Schalem und die beiden nächsten Ahnen des Mir saßen, die an unserer Versammlung mit teilzunehmen hatten. Wir alle waren im höchsten Grad wißbegierig, von wem und auf welcher Weise sich der Transport dieser drei Leichen ermöglichen lassen werde. Da wurden draußen die Gebetsbretter erst sechsmal und dann zwölfmal angeschlagen, und die halb singende Stimme des Muezzin ertönte:
    „Es ist Mitternacht! Die sechste und die zwölfte Stunde für alle Sterblichen. Finsternis auf Erden; Licht über den Sternen. Der Mensch sei gerecht; Gott aber ist barmherzig!“
    Sobald diese Stimme verklungen war, konnte Halef, der Lebhafteste und Ungeduldigste von uns allen, sich nicht mehr halten. Er holte tief, tief Atem und sagte:
    „Jetzt muß es sich zeigen! Jetzt muß es sich lösen, das große Rätsel des Lebens! Jetzt müßten eigentlich die Toten lebendig werden, wenigstens drei von ihnen, um mit uns –“
    Er wurde unterbrochen. Es geschah etwas vollständig Unerwartetes, etwas geradezu Wunderbares. Nämlich in diesem Augenblicke stand Abu Schalem, der berühmteste, gerechteste und gütigste aller Maha-Lamas, von seinem Sitz auf, öffnete die Lippen und sprach:
    „Sie werden lebendig! Finsternis auf Erden; Licht über den Sternen! Ich gehe euch voran. Kommt alle; kommt mit mir!“
    Er nahm das große Schuldbuch vom Tisch und kam mit ihm langsam und feierlich die Stufen herabgestiegen. Sein langgeflochtenes, silbernes Haar bewegte sich, wie er die Füße bewegte. Sein Bart, dessen Ende unter dem Tisch verborgen gewesen war, wallte bis auf die Knie herab. Seine großen, weit geöffneten Augen waren auf uns gerichtet und schienen uns mit ihrem Blick durchdringen zu wollen. So ging er mitten zwischen den anderen Maha-Lamas hindurch, die unbeweglich sitzen blieben. So schritt er auch durch die ganze Zahl der angeschuldigten Herrscher von Ardistan. Vor den beiden letzten, dem Vater und dem Großvater des jetzigen Mir, blieb er stehen, hob die Hand und forderte sie auf:
    „Ihr kommt mit eurem Sohne!“
    „Wir kommen!“ antwortete der Großvater und stand auf.
    „Wir kommen!“ antwortete auch der Vater und stand auf.
    Sie nahmen den Mir zwischen sich und folgten dem

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