25 - Ardistan und Dschinnistan II
an deiner Stelle saßen, hat das begreifen können. Du bist der erste. Ich weise dich nicht zurück, sondern ich danke dir. Wessen klagst du dich und deine Vorfahren an?“
„Aller Sünden, die dort in deinem Buch stehen! Aller! Keine ausgenommen!“
„Und forderst Strafe?“
„Ja.“
„Welche?“
„Genau die, welche von dieser unserer Dschema hier ausgesprochen wird.“
Er setzte sich. Da sprach Abu Schalem:
„Die Anklage ist erhoben. So hört, was hier im Buch steht, vom Anfang bis zum Ende! Ich lese vor.“
Er schlug das Schuldbuch auf. Da erhob der Mir sich schnell wieder von seinem Sitz und protestierte:
„Das ist nicht nötig! Ich spreche jetzt nicht mehr als Ankläger, sondern als Angeklagter. Ich gestehe alles ein, jede Seite, jede Zeile, jedes Wort!“
„Dieses Geständnis reicht nur für dich, nicht für die andern. Du bist nicht der einzige Angeklagte.“
„Wohl bin ich der einzige! Denn ich erkläre hiermit, daß ich die Sünden meines ganzen Stammes auf mich nehme, auf mich allein!“
Da stützte Abu Schalem seine beiden Hände auf den Tisch, stand langsam, langsam auf, ich möchte fast sagen, Zoll um Zoll, schob den Oberkörper weit vor und fragte:
„Weißt du, was du da sprichst und tust?“
„Ich weiß es!“ versicherte der Mir.
„So wiederhole es! Du hast dieses große, schwere, folgenreiche Wort dreimal auszusprechen.“
„Ich erkläre zum zweiten und zum dritten Male, daß ich die Sünden meiner Väter auf mich nehme. Sie seien frei. Ich bin allein der Schuldige!“
„Nicht nur die Sünden, sondern auch die Strafen?“
„Auch die Strafen!“
Da ließ die Spannung im Gesicht und in der Haltung des Vorsitzenden nach. Sein Körper richtete sich wieder gerade auf. Seine Augen leuchteten, und seine Züge glänzten, als ob sie nun direkt im Sonnenschein lägen. Er rief aus:
„Das ist eine Dschema, wie es noch nie eine gab! Ich frage dich noch einmal: Hast du dir wohlüberlegt, was du sagst? Bedenke nur allein die Kriege, das Blutvergießen, der ununterbrochene Menschenmord! Nur hierfür allein gehört vieltausend-, tausendmal die Todesstrafe! Bleibst du dennoch bei deinem Wort?“
„Ich bleibe dabei!“
„So bist du allerdings der einzige Angeklagte. Die andern können gehen!“
Da erhoben Vater und Großvater sich von ihren Sitzen und gingen hinaus, ganz ohne Eile, Schritt um Schritt, ohne ein Wort zu sagen. Der Mir aber selbst blieb stehen, obgleich Abu Schalem sich wieder niedersetzte und dann in frohbewegtem Ton fortfuhr:
„Sooft gegen einen Mir von Ardistan an diesem Ort verhandelt wurde, mußte man ihn dreimal fragen, ob er die Sünden seiner Väter auf sich nehmen wollte, doch keiner von ihnen allen besaß den Glauben, die Liebe und den Mut, seine Vorfahren zu entlasten. Schedid el Ghalabi aber, der jetzige Mir, hat nicht gewartet, bis diese Frage ausgesprochen wurde, sondern er ist ihr zuvorgekommen wie ein Mann, ja wie ein Held, der Schweres tragen und noch Schwereres vollbringen kann. Darum soll er auch als Mann und Held behandelt werden, dem wir, seine Richter, Vertrauen schenken. Ich habe ihn zu fragen: Bereust du, was von all den Deinen, die vor dir waren, gegen Gott und Menschen geschehen ist?“
„Ich bereue es!“
Indem der Mir diese Versicherung gab, war ihm anzusehen und auch anzuhören, daß es ihm mit ihr im höchsten Grade ernst war. Abu Schalem fragte weiter:
„Und bist du bereit, es durch all die Deinen, die nach dir kommen, vor Gott und den Menschen zu sühnen?“
„Ich bin bereit!“ beteuerte der Gefragte.
„Versprichst du dir selbst und uns, vor allen Dingen und von heute an in der Weise für den Frieden aller deiner Länder und Völker zu wirken, wie deine Ahnen nur immer gegen ihn handelten?“
„Ich verspreche es!“
Da stand der berühmteste, der gerechteste und der gütigste aller Maha-Lamas mit einem schnellen, energischen Ruck wieder auf, erhob die Hand, als ob er segnen wolle, und rief:
„So entlaste ich dich hiermit von aller Schuld und Strafe, die du auf dich genommen hast. Ich lege diese ganze Last in die Hand des höchsten Richters. Sie falle auf denjenigen von allen, die nach dir kommen, der gegen das Versprechen handelt, welches du uns hier und heute gegeben hast! Seid ihr einverstanden, ihr Richter, die ihr euch doch auch als ‚Sünder‘ bezeichnen ließet?“
Diese Frage galt uns, die wir sofort von unseren Sitzen aufsprangen, um unsere Zustimmung auszudrücken.
„Einverstanden, einverstanden,
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