25 - Ardistan und Dschinnistan II
und ohne Sorge! Seid offen, und seid ehrlich! Fürchtet den Tyrannen nicht! Ich weiß, daß ich es bin, ein Bedrücker, ein Gewalt- und Schreckensherrscher, anmaßend, hochmütig erbarmungslos. Aber dieser Despot sitzt nicht hier vor euch. Der blieb vor Schreck über die vier ‚tollen Hunde‘ im Prunkgewand stecken. Und als er sah, daß alle die Schurken und Speichellecker vor den Hunden flohen, ohne daß es einem einzigen von ihnen einfiel, auch nur eine Hand für den Fürsten zu rühren, um ihn vor den giftigen Bissen der Ungetüme zu bewahren, da erschrak er über die unendliche Größe dieses Undankes und dieses Verlassenseins und kroch tiefer und tiefer in die Majestät des Audienzanzugs hinein. Da steckt er noch und wird uns hier nicht stören. Hierher ist nur meine Seele gekommen. Gönnt ihr ein wenig Licht, ein wenig Wärme, daß es ihr möglich wird, auf eine kurze Stunde zu vergessen, daß sie weiter nichts, weiter gar nichts ist, als die verschmachtende innere Sehnsucht eines – von Gott zur Nächstenliebe geschaffenen, vom Schicksal aber zur Gewalttätigkeit verurteilten Herrschers!“
Sein Wunsch wurde erfüllt, und zwar unendlich gern. Wir unterhielten uns zunächst wie Männer, die einander kennenlernen wollen, dann wie Menschen, die nach den ersten und letzten Gründen und Zwecken ihres Daseins suchen, nach der Aufgabe, human zu sein und Frieden zu halten, hierauf wie gute Bekannte, die sich bestreben, einander zu veredeln und zu lieben, endlich fast gar wie innerlich Verwandte, die untereinander verpflichtet sind, eines einigen Sinnes zu sein. Der Mir war ganz bei der Sache, und er blieb auch dabei, obwohl Stunde um Stunde verrann. Er schien sich wie neugeboren zu fühlen. Er wurde heiter. Er lachte oftmals glücklich auf. Es kam sogar vor, daß er zu uns herübergriff und unsere Hände drückte. Freilich geschah es hier oder da, daß der Herrscher und Gewalthaber plötzlich in ihm rege wurde. Dann schaute er einen Augenblick wie ganz verdutzt um sich und nahm einen Anlauf, uns in unsere Nichtigkeit hinabzuwerfen, stets aber gewann die Seele schnell wieder die Oberhand und stellte das in Gefahr geratene Gleichgewicht wieder her.
Einmal während des Gespräches, als der Audienzsaal erwähnt wurde, fragte Halef, was das für viele und kleine Flämmchen seien, die man durch die dünne Stoffwand sehen könne. „Das ist der Himmel von Bet Lahem (Bethlehem), dessen Sterne nach einem alten Gesetz jetzt während der Nacht brennen müssen, um auf den großen, heiligen ‚Stern des Erlösers‘ zu warten. Hörtest du noch nichts hiervon?“
„Nein“, antwortete ich.
„Aber die Sage vom zurückgekehrten Fluß kennst du wohl? Und auch die Behauptung, daß alle hundert Jahre sich das Paradies öffne und daß die Erzengel und Engel über die Erde rufen, ob endlich Friede sei?“
„Ja, das hat man uns bei den Ussul erzählt.“
„Das alles ist natürlich weiter nichts als Sage, nur Sage. Aber das Volk glaubt daran und hält es für Wirklichkeit. Man hat diesen Glauben zu respektieren, wenn man nicht wagen will, die Macht über die Gewissen der nur allzu Leichtgläubigen zu verlieren. Da oben in Dschinnistan gibt es natürlich nur feuerspeiende Berge, aber nicht das Paradies. Auch ist weder Gott jemals herabgekommen noch der Fluß wieder zurückgelaufen. Er hat sehr einfach infolge einer geologischen Katastrophe seinen Lauf geändert und fließt nicht mehr diesseits, sondern jenseits der Berge ab. Dadurch wurden die Bewohner von Ardistan gezwungen, ihre damalige Hauptstadt, die jetzige ‚Stadt der Geister‘ oder ‚Stadt der Toten‘ zu verlassen und sich eine andere Residenz zu bauen. Das taten sie in dieser Gegend, hier, wo zwischen vier kleineren Flüssen, die nicht von dem System des großen Stroms abhängig waren, die damals sehr reichen Christen sich diese Landeskirche gebaut hatten, die ganz natürlich nun zum Fürstensitz dienen mußte. Um dieses Volk nicht allzusehr zu empören, warf man es nicht ganz aus der Kirche hinaus, sondern ließ ihm einen Anteil an ihr, der ein fast ganz ideeller war und die jetzigen Besitzer gar nicht störte. Man knüpfte an die alten Sagen an und fügte eine Art prophetischen Versprechens hinzu, welches sich selbstverständlich niemals erfüllen wird, weil es kein göttliches ist, obgleich die Christen es für ein göttliches halten. Man sagte nämlich, daß diese Kirche ein Bild der kommenden Erlösung, also des Christentums sei, und daß sich die
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