25 Stunden
gegen den Uhrzeigersinn um das Reservoir im Central Park herum. Das Schneetreiben wird immer dichter; man kann nur noch zehn Meter weit sehen in jede Richtung. Hinter dem Maschendrahtzaun zu ihrer Linken ist nichts als Weiß, das gilt auch für die Bäume und Büsche zu ihrer Rechten, hinter denen unerforschtes Gebiet zu liegen scheint. Naturelle hat eine Kapuzenjacke und dicke Fausthandschuhe an. Sie hat Doyle losgemacht, und der Hund flitzt davon, schnuppert erst zwanzig Meter weiter vom an einem gefrorenen Scheißhaufen, jagt dann dreißig Meter weiter vom ein entsetztes Eichhörnchen durchs Gebüsch. Naturelle weiß, wie sauer Montgomery wäre, wenn er wüsste, dass sie seinen Hund frei laufen lässt. »Gib der Stadt eine Ausrede, und die braten deinen Pitbull in Butter«, sagt er dann gern, aber zu laufen und auf den Hund aufzupassen, ist zu anstrengend. Doyle ist stärker, als gut für ihn ist.
Sie hat Montgomery ein Dutzend Mal gefragt, was er mit dem Hund vorhat, und sie hat nie eine richtige Antwort bekommen. Wo wird Doyle bleiben? Ende Februar, für den Monty bereits gezahlt hat, wird Naturelle aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausziehen müssen, zurück in die Bronx erst mal, zu ihrer Mutter, bis sie Arbeit gefunden hat und sich eine eigene Wohnung suchen kann. Und Mrs. Rosario würde Doyle — oder sonst etwas, das Montgomery Brogan gehört hat - nie durch die Tür lassen. Doyle und Mrs. Rosario sind sich ein einziges Mal begegnet und haben einander gehasst: Der Hund hat sie nach dem ersten Schnuppem angeknurrt, mit angelegten Ohren, und sie hat ein finsteres Gesicht gezogen und gesagt: »An dem haben wohl Ratten rumgeknabbert, so wie der aussieht.« Und Montgomery hat alles noch viel schlimmer gemacht, indem er auf Mrs. Rosarios gefärbte Haare gezeigt und gesagt hat: »Muss an Ihren Haaren liegen. Alles, was dieses Rot hat, kann er nicht leiden.«
Naturelles Mutter hatte sie gewarnt wegen Monty, und nun, wo sie Recht behalten hat, lässt sie keine Gelegenheit aus, es ihr unter die Nase zu reiben. Was Naturelle daran am meisten ärgert, ist, dass ihre Mutter mit der ganzen Situation anscheinend sehr zufrieden ist und sich freut, dass dieser mürrische weiße Junge der Kriminelle ist, für den sie ihn von Anfang an gehalten hat. »Ich weiß gar nicht, warum du da noch bleibst«, tönt Mrs. Rosario ständig. »Irgendwann kommt wer und schießt ihm eine Kugel in den Kopf und dir auch gleich noch eine, wenn ihm grad danach ist.« Was den Kommentar ihrer Mutter doppelt ärgerlich macht - Naturelle hat das auch schon gedacht, wenn sie nachts wach liegt.
Sie hat immer gewusst, dass Monty eines Tages verhaftet oder ermordet werden würde, dass er ihr gemeinsames Bett am Morgen verlassen und am Abend nicht wieder dorthin zurückkehren würde. Nie hat sie sich vorstellen können, mit ihm alt zu werden - oder dass er überhaupt alt werden würde. Sie hat versucht, ihn sich mit grauen Haaren vorzustellen, mit Falten, mit einem Schlurfen statt diesem federnden Schritt, aber der Fantasie-Monty hat diese Maskerade jedes Mal abgeschüttelt und sie angegrinst, frei und ungebunden und unwandelbar jung. Er hat etwas von einem hochintelligenten Jungen, der noch nicht gelernt hat, Interesse an anderen Leuten zu heucheln. Die Gefühle seiner Verwandten und Freunde sind ihm immer egal gewesen. Er ist immer geliebt worden; er hat sich nie um Liebe bemühen müssen.
Warum bleibt sie dann? Wenn Naturelle an Monty denkt, dann stellt sie ihn sich oft beim Autofahren vor, die linke Hand unten um das Lenkrad gelegt. Einmal ist sie mit ihm die Second Avenue runtergefahren, und jede Ampel wurde genau im richtigen Moment grün, und sie rollten glücklich dahin, und Monty hatte die Hand auf ihrem Schenkel liegen und klopfte mit den Fingerspitzen den Takt der Musik aus dem Radio. Da schoss an der 112*h Street plötzlich ein Taxi bei Rot über die Straße, und Naturelle war klar, dass sie nicht mehr bremsen konnten; sie sah, was passieren würde, sah ihre Corvette in das Taxi krachen, sah die Motorhaube sich zusammenfalten und ihre Körper nach vom schießen, sah es alles vor sich in diesem Moment — nur dass es nicht passierte. Monty beschleunigte und lenkte den Wagen um das Taxi herum, haarscharf hinter der Heckstoßstange. Seine Fingerspitzen setzten nicht einen Takt aus.
Dreißig Sekunden später, als sie wieder Luft bekam, sagte sie: »Ich dachte, wir sterben.«
»Wegen dem Taxi? Ich hab's kommen gesehen.« Eine Werbepause kam, und
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