25 Stunden
der Junge nach seiner Mutter kam: die gleichen dichten schwarzen Haare, die gleichen kleinen, gleichmäßigen Zähne, die gleiche gerade Nase, die gleichen schönen Augen, so grün, dass es einen nervös machte. Er war ein hübscher Junge und wuchs zu einem hübschen Mann heran, und Mr. Brogan war immer stolz, einen so gut aussehenden Sohn zu haben. Nun jedoch wünscht er sich, Monty würde ein bisschen weniger gut aussehen.
»Ich muss los, Dad. Ich treff mich gleich mit den Jungs.« Die Hälfte von Montys Kalbskotelett liegt noch auf dem Teller.
»Wir sehen uns morgen«, sagt Mr. Brogan. Er zieht seine Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts.
»Morgen? Wozu? Ich steig in den Bus, und weg bin ich.«
»Vergiss den Bus. Ich werd dich fahren. Das dauert halb so lang.«
Monty runzelt die Stirn, wischt sich mit der Serviette den Mund ab und schiebt seinen Stuhl zurück. »Nein danke, Dad. Ich möchte mich lieber hier von dir verabschieden.«
Mr. Brogan zieht ein kleines Foto aus der Brieftasche und gibt es seinem Sohn. »Nimm das mit. Sie werden es dir nicht wegnehmen.«
Monty hält das Foto vorsichtig zwischen den Fingern. Sie drei, die ganze Familie, wie sie vor einem üppig geschmückten Baum steht. Auf der Rückseite eine Bleistiftnotiz: Weihnachten 1976. Monty mit sechs, in einem gelben Mickymaus- Schlafanzug; er hält die Hand seiner Mutter und sieht zu Boden. Mr. Brogan weiß noch, wie sie versucht haben, den Jungen zum Lächeln zu bringen; sie haben gescherzt und gebettelt und gedroht, aber ohne Erfolg.
Mr. Brogan erzählt die Geschichte, und Monty nickt, obwohl er sich an nichts erinnern kann. Aber es schmerzt ihn zu sehen, wie schön seine Mutter gewesen ist, wie jung. Denn so kann er sich nicht an sie erinnern; er kann sich nicht daran erinnern, dass sie schön gewesen ist, sondern nur daran, wie sie verfallen und mit gekrümmten Gliedmaßen im Krankenhaus lag.
Mr. Brogan räuspert sich. »Sie...«
»Nicht, Dad«, sagt Monty, der immer noch ihr Gesicht ansieht. »Nicht jetzt.«
Monty steckt die Fotografie sorgfältig in die eigene Brieftasche, legt Geld für die Rechnung auf den Tisch, steht auf, küsst seinen Vater auf die Stirn und verlässt das Restaurant. Mr. Brogan schließt die Augen und lauscht dem eigenen Atem. Er hat eine Frau, die liegt in Woodlawn begraben; er hat einen Sohn, der ist unterwegs nach Otisville.
8
Ein Mann ohne Gesicht klopft in Naturelles Traum an die Tür, aber das Klopfen klingt völlig falsch, viel zu hoch, und in den Sekunden vor dem Erwachen geht ihr auf, dass das, was sie da hört, Doyles Pfoten auf dem Hartholzboden sind. Eine raue Zunge leckt ihr übers Gesicht, und sie öffnet die Augen.
»Hey. Hey.«
Doyle hat die Vorderpfoten in die Matratze gestemmt, sie hat seinen unförmigen Kopf mit den braunen Augen direkt vor der Nase.
»Ab, Doyle, runter mit dir. Ab. Ab. Doyle, mach schon.«
Er leckt ihr wieder übers Gesicht, und sie versucht ihn wegzuschieben, aber Doyle denkt, sie will spielen und senkt den Kopf, um ihr das Handgelenk zu lecken. Naturelle setzt sich auf und wirft einen Blick auf die Digitaluhr auf dem Nachttisch: kurz vor halb zehn. Für einen Moment denkt sie, dass es Morgen wäre, dass Montgomery weg ist, dass sie alles verpasst hat. Aber die Stadt draußen ist dunkel, so dunkel, wie die Stadt nur werden kann. Naturelle hat die Nacht noch vor sich. Und was das Schlimmste ist, dieses Gefühl, als sie aufgewacht ist und gedacht hat, dass es Morgen wäre - es war nicht Panik oder Enttäuschung oder Traurigkeit, sondern Erleichterung.
Doyle bellt scharf, und Naturelle starrt ihn schuldbewusst an, als hätte der Hund ihre Gedanken gelesen. »Was?«, fragt sie ihn. Aber er sieht sie nur an und wedelt mit seinem Stummelschwanz.
»Jetzt?« Sie steht auf und geht zum Fenster, schaut auf die dicken Flocken hinaus, die langsam herunterschweben. Auf den geparkten Autos liegen schon ein paar Zentimeter. »Es schneit«, sagt sie zu dem Hund. »Ich weiß nicht, Doyle. Da kommt richtig was runter.«Doyle läuft zum Wandschrank, bellt wieder, und Naturelle hebt ergeben die Hände. »Also gut, meinetwegen.« Sie macht eine Rumpfbeuge, berührt ihre Zehen, und dann öffnet sie den Schrank und sucht nach ihren Joggingsachen. Als sie in die Hose steigt, flitzt Doyle ins Wohnzimmer; Naturelle hört seine Pfoten über den Boden scharren, sein aufgeregtes Hecheln, hört seinen muskulösen Körper gegen ein Möbelstück krachen.
Zehn Minuten später joggen sie
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