2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
schnell bis hierher gekommen ist. „Ich
wollte euch wieder sehen", erklärt er mit leuchtenden Augen und sorgt
damit für eine wohlige Gänsehaut bei Saquina und mir.
Gemeinsam besuchen wir am Abend die
Pilgermesse, die mir allerdings etwas eingeschlafen vorkommt: Mönche singen
bedächtige Choräle, mit zitternder Stimme liest ein alter Mann Ausschnitte aus
der Bibel, man wünscht uns in verschiedenen Sprachen Glück und will uns Kraft
spenden, aber all das geschieht mit einer seltsamen Zurückhaltung und einer
gewissen Behäbigkeit. Offensichtlich ist die Messe auf Kirchgänger jenseits der
siebzig zugeschnitten, aus denen die Mehrheit des Publikums besteht. In Conques
wusste ich noch nicht, dass die Messe in den nordspanischen Kirchen weitaus
ergreifender werden würde, von Santiago ganz zu schweigen. Auch wenn meine
Vorbehalte gegen die Kirche, unter der ich mir aufgrund meiner Erfahrungen in
Deutschland in erster Linie einen eingeschlafenen Altherrenverein vorstelle,
vorerst in Conques bestätigt wurden.
Rebellion auf beiden Seiten der Pyrenäen
Die Erfahrung der lethargischen
Pilgermesse in Conques wird allerdings mehr als wettgemacht durch die Gegend,
in die wir drei, Saquina , Pierre und ich, jetzt
gelangen. Südfrankreich, le midi: Diese Region zwischen Biarritz und
Montpellier lockt jährlich zigtausende sonnenhungrige Touristen an; Franzosen,
die das Schmuddelwetter in Paris, Nancy, Le Havre
oder Rennes für ein paar Wochen gegen die Leichtigkeit des Südens tauschen
wollen, Deutsche, die in den Sommermonaten die Strände der Cöte d’Azur bevölkern, Surfer, die sich in die tosende
Atlantikküste des Baskenlands werfen und Abenteurer, die, bewaffnet mit
Steigeisen, dicken Jacken und zumeist ungenauen Karten, in den Pyrenäen unterwegs
sind. Tatsächlich scheinen die rauen, regenreichen Pyrenäen, in denen das
Wetter mehrmals täglich abrupt wechseln kann, mit der ungezähmten Wildnis der
Hochebenen, über denen der Wintersturm manchmal Schneeflocken tanzen lässt, mit
den unbezwungenen Steilwänden, die sich mit gezackten
Felsformationen massiv gegen die Winde stemmen, und mit den aufmüpfigen
Gipfelspitzen, die sich trotzig durch die Wolken schrauben, einen starken
Einfluss auf die Menschen zwischen Atlantik und Mittelmeer auszuüben. Im Osten
rebellieren die Katalanen gegen die Zentralgewalt in Madrid und weigern sich
standhaft, Spanisch statt Catalan zu sprechen,
indem sie unter anderem darauf verweisen, dass ihre Region Cataluña älter ist als Spanien. Im Westen konnten die Bewohner von Euskadi , dem Baskenland, dessen Sprache zusammen mit dem Finnisch-Ugrischen die
älteste Europas ist, bereits Sonderrechte wie eine eigene Polizei und die
Steuerhoheit für ihre Region durchsetzen. Dennoch unterstreichen einige Basken
ihre Forderungen, die zwischen mehr Autonomie und der vollständigen
Unabhängigkeit pendeln, zuweilen durch Anschläge und Attentate. Und in der
Mitte befindet sich ein winziges Land ohne Flughafen und ohne eine eigene
Armee, das eigentlich nur aus rauen Berghängen besteht, und in dem sich 70.000
Einwohner seit 1278 standhaft weigern, sich für eine Zugehörigkeit zu
Frankreich oder Spanien zu entscheiden: Andorra.
Kurz: Das ist eine Region ganz nach
meinem Geschmack! Was nochmals unterstrichen wird, als wir in dem kleinen
Örtchen Aujols bei einem Rentnerehepaar übernachten,
das äußerst skeptisch gegenüber der Zentralgewalt in Paris eingestellt ist,
leidenschaftlich über Jacques Chirac und alle Staatspräsidenten vor ihm
herzieht und sich als Verbündeter der Katalanen und der Basken sieht — ohnehin
hätten sie weitaus mehr Gemeinsamkeiten mit den Menschen in der nordspanischen
Region Navarra als mit einem Einwohner von Paris. An jenem Abend wird mir von
Pierre erneut eindrucksvoll vor Augen geführt, was französische Lebenskunst
beinhaltet. Das Abendessen beginnt nämlich mit einem hausgemachten Nudelsalat
als Hors d’Oeuvre , der einen bereits satt macht,
gefolgt von einem punktgenau gegrillten Lammkotelett, das außen knusprig und
innen saftig ist, dazu gibt es frische Bohnen aus der Region. Mein deutscher
Gaumen wäre an dieser Stelle bereits rundum zufrieden, doch Pierre erklärt mir
geduldig, dass ohne eine der über 300 französischen Käsesorten kein Abendessen
vollständig sein kann. Also rundet ein Ziegenkäse, mit einem Hauch Safransoße
beträufelt, unser Festmahl ab, eine herzhaft-süße Mischung, der durch das ferne
Gewürz, das als
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