2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Süßwarenläden, und in das Gemurmel auf den Straßen werfen
spielende Kinder ihre hellen Schreie. Im Sommer wird Pamplona zu einer
Verheißung.
Vielleicht ist es auch nur die Hitze,
die alle kirre macht. Erbarmungslos lässt die Sonne ihre Strahlen senkrecht auf
die Stadt prasseln. Sie scheint sich vorgenommen zu haben, ein Loch in den
Boden zu bohren, so intensiv brennt sie vom Himmel. In einem Supermarkt kaufe
ich mir mein heutiges Mittagessen; dann verziehe ich mich für zwei Stunden in
die schattige Ecke eines großen Platzes und lasse die Stadt um mich herum
kreisen. Touristen mit schweren Fotoapparaten hasten an mir vorbei,
kulturhungrige Frauen ergießen sich in die Museen, ein französisches Pärchen
lässt sich durch die Straßen treiben, und drei Fußball spielende Kinder fragen
mich, ob wirklich alle Deutsche so reich seien.
Sympathischerweise scheint das Leben in Pamplona aus zwei
Phasen zu bestehen: Momentan ist noch siesta , aber ab 22 Uhr beginnt mit der fiesta ein
neuer Abschnitt, während dem Pamplonas Tapas- Barchefs sich die Hände reiben, Diskos Rekordumsätze verbuchen und auch Kinder bis 5 Uhr
morgens wach bleiben. Überhaupt erscheint mir diese Stadt in mehrfacher
Hinsicht zweigeteilt: Um die gepflegten Gebäude der Altstadt legt sich ein
Gürtel aus Plattenbauten, die Vorstadt ist eine einzige Bausünde. Die meisten
Einwohner Pamplonas wohnen in einem dieser zweckmäßigen Bauklötze, leben und
arbeiten jedoch in der Altstadt. Als ich eine der zahlreichen Kirchen Pamplonas
besuche, erfahre ich eine andere Zweiteilung der Stadt. Während draußen das
Leben lärmt und aufgetakelte Menschen erwartungssüchtig ihre Runden drehen, ist
es in der bis auf den letzten Platz besetzten Kirche vollkommen ruhig. Es ist
so still, dass es mir fast surreal vorkommt, als ich von dem lebhaften Treiben
Pamplonas durch die Eingangspforte der Kirche in eine Welt gleite, die von
gedämpftem Kerzenlicht und Weihrauch erfüllt ist, und in der selbst Geflüstertes
von den hohen Wänden und der schwungvoll gebogenen Decke zurückgeworfen wird.
In diese Kirche zu treten ist, als träte man für eine kurze Zeit neben das
Leben, als klinke man sich für einige Momente aus der Zeit aus und ließe die
Geschehnisse an sich vorbeiziehen. Dieser Ort bietet eine Ruhepause für die
Sinne, und in Pamplona habe ich etwas Derartiges am wenigsten erwartet. Lange
streife ich durch das Gotteshaus und lasse meinen bisherigen Weg Revue
passieren. Bilder graben sich in mein Gedächtnis, die schneebedeckten Schweizer
Gipfel, das verschmitzte Lächeln des hinterwäldlerischen Soldaten kurz vor
Fribourg und der Gesichtsausdruck von Saquina , wenn
sie „ah, bon ?“ sagt — seltsam, an was man sich alles
erinnert. Die bizarren Vulkane um Le Puy drehen eine
Runde in meiner Erinnerung, der Wind im Hochland des Aubrac fegt durch meine Gedanken. Cahors bietet sich mir an,
dösend in der Hitze eines wolkenfreien Mittags. Saquina ,
Laetitia und Pierre diskutieren in meinem Kopf. Thérèse taucht auf, wie sie uns
verabschiedet, singend, im Morgenrock; das wundersame Wiedersehen mit Pierre
prägt sich mir ein, die souveräne Ruhe im Blick unseres Gastgebers in Aire sur l’Adour und mein Übergang über die Pyrenäen, in dichtem Nebel, die Ungewissheit und
Verheißungen Spaniens vor mir.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf diese
Weise selbstreferenziell in der Kirche abhänge. Irgendwann werde ich
aufgeschreckt: Wie auf ein Zeichen hin erheben sich alle Kirchenbesucher, die
ersten Takte eines Liedes ertönen. Lange, tiefe Töne erfüllen das Gebäude, dann
beginnen die Anwesenden zu singen. Der plötzliche Gleichklang aus Hunderten von
Kehlen, von den Wänden Dutzend Mal hin- und hergeworfen, lässt einen Schauer
meinen Rücken hinunterwandern, als ich plötzlich merke, dass gar kein Lied
ertönt, zumindest nicht im klassischen Sinn. Dieselbe Zeile, denke ich
verdutzt, alle singen immer dieselbe Zeile. Das geschieht mit einer Hingabe,
die ich bislang selten erlebt habe, vor allem aber nicht in einer Kirche:
Blicke richten sich hoffnungsvoll nach oben, eine alte Frau wischt sich die
ersten Tränen aus den Augen; und dann wird eine Art Licht durch das Gebäude
getragen, drei Mal im Kreis, und alle Besucher nehmen daran teil und werden zu
einer Prozession, die sich dreht, drei Mal im Kreis. Was ich sehe wirkt
mystisch auf mich, wie eine Massenekstase zu fremdartiger Musik. In jedem Fall
hinterlässt es einen tiefen Eindruck bei mir.
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