255 - Winterhexe
»Traysi« genannt hatte. Nicht so Gwaysi. Ihren Namen hatte sie beibehalten, zur Erinnerung an ferne, bessere Zeiten.
Zwei Stunden, nachdem selbst Rothschild eingeräumt hatte, dass das Wetter kritisch werden könnte, braute sich über ihnen eine Regenfront zusammen, die übergangslos ihre Schleusen öffnete und sintflutartige Wasser herabstürzen ließ.
»Scheiße!«, fluchte Gwaysi.
Mit Beeilen allein war es nicht getan. Sie brauchten dringend einen Unterschlupf, wo sie das Ende des Platzregens abwarten konnten. Noch während sie Ausschau nach einer geeigneten Zuflucht hielten, mischte sich in den Regen erster Hagel, der binnen Sekunden von Fingernagel- zu Vogeleigröße wuchs und damit lebensbedrohlich wurde.
»Scheiße!«, fluchte jetzt auch Rothschild.
Gwaysi war es schließlich, die völlig durchnässt und mit etlichen blauen Flecken Rothschild am Arm packte und nach links zerrte. Kurz darauf quetschten sie sich durch die verbogenen Gitter einer Absperrung, die einst den Zugang zu einem gemauerten Schacht gesichert hatte.
Nach Atem ringend schleppten sie sich noch vier, fünf Meter weiter, ehe sie einfach rechts und links der Schachtwand zu Boden rutschten. Sie konnten kaum noch die Hand vor Augen sehen. Das Unwetter hatte den Tag zur Nacht gemacht. Nur wenn Blitze die Schwärze spalteten, sahen sie für den Bruchteil einer Sekunde das verkniffene Gesicht des anderen.
»Gut gemacht«, keuchte Rothschild. »Das war knapper, als ich dachte. Wenn wir bei ihm sind, werde ich dem Irren erst mal kräftig in den -«
Sie unterbrach ihn, ohne zu wissen, was da über sie kam: »Musst du eigentlich immer nur quatschen?«
Bevor er antworten konnte, rutschte sie zu ihm hinüber, schlang die Arme um ihn und suchte seine Wärme. Seine Lippen. Und dann brachen auch in ihm alle Dämme. Sie küssten und streichelten sich und gaben sich alles, was sie seit einer Ewigkeit vermisst zu haben schienen. Es war völlig verrückt. Und wunderschön.
***
Vor der Kulisse aus Blitz und Donner und prasselndem Eisregen liebten sie sich.
Doch das Grauen lauerte bereits auf sie. Und es wartete das Ende des Unwetters ebenso wenig ab wie das Ende der Ekstase.
Gwaysi tauchte aus ihrem rauschhaften Verlangen empor. Von einem Moment zum anderen war sie ernüchtert, obwohl Rothschild sich wie zuvor in ihr bewegte, seinen Körper auf ihrem rieb und dabei jede Stelle, die er mit seinen Lippen erreichen konnte, mit Küssen bedeckte, sodass sie eben noch geglaubt hatte, den Verstand verlieren zu müssen.
Jetzt war alles anders. Die Lust war entrückt. Wasser umspülte ihren Körper, kein bloßes Rinnsal, sondern ein Strom, der stetig anschwoll und der auch nicht von draußen hereingetrieben wurde, sondern hinter ihnen aus der Dunkelheit des Schachtes.
Und es stank.
So roch kein Regen, der vom Himmel fiel, so roch nur Wasser, das einen langen Weg durch dreckige, verseuchte Röhren und Kanäle hinter sich hatte.
Eine Kloake!
Gwaysi lag mitten in einer Kloake, die jetzt durch den Wolkenbruch überlief und dabei Dinge heranspülte, die besser für immer im Verborgenen geblieben wären.
Der Ekel schüttelte sie.
Und endlich merkte auch Rothschild, dass Gwaysis Bewegungen kein Ausdruck von Leidenschaft und Lust mehr waren wie in den Minuten zuvor. Er hielt inne und keuchte: »Habe ich -«
»Geh runter! Runter von mir!«
»Ich wollte nicht -«
»Scheiß drauf, Mann, es liegt nicht an dir. Hast du keine Augen im Kopf, und keine Nase ?«
Er wälzte sich von ihr herunter, patschte dabei in die stinkende Brühe, fluchte und kam so schnell auf die Beine, dass Gwaysi den Luftzug spürte, den er verursachte.
Sie selbst stand einen Atemzug später und richtete sich die Kleidung.
»So ein Mist - was wird da denn rangespült?« Rothschilds Enttäuschung war unüberhörbar. Und Gwaysi war nicht unglücklich darüber, dass er die Unterbrechung ihres Liebesspiels bedauerte.
»Was war das?« Er spannte sich an. Dann bemerkte auch sie es: ein Geräusch. Nicht von draußen kommend, sondern…
Sie blickte ebenso wie Rothschild dorthin, wo aus der Schwärze des Schachts der merkwürdig schmatzende Laut erklang… immer wieder und lauter werdend.
»Wir müssen sofort hier raus«, entschied Rothschild. »Wo ist mein Rucksack?« Er stolperte, stürzte fast, berappelte sich aber wieder.
»Hier! Ich hab ihn!«, rief Gwaysi, die das schwere Gepäckstück aus dem Wasser fischte und schulterte. »Ich nehm ihn, bis wir draußen sind.«
Rothschild trieb sie
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