255 - Winterhexe
genau in dem Moment geflohen, als Gwaysi sich inbrünstig gewünscht hatte, sie möge verschwinden.
Ausgerechnet jetzt, mit Rothschild im Arm - eine Umarmung, die Gwaysi nicht nur psychische, sondern auch physische Schmerzen bereitete -, fing sie an, darüber zu grübeln, ob nicht mehr als purer Zufall hinter dem Entkommen aus Ayr und dem freiwilligen Abzug der Snäkke stecken könnte.
Ob nicht -
Ach was! , verwarf sie den aberwitzigen Gedanken. Und suchte Halt, Ablenkung in der eigenen Stimme, die krächzend sagte: »Halt durch, du schaffst es. Ich bringe dich…«, sie schluckte, »… ich bringe dich dorthin, wo man auf dich wartet. Dort wird man dir helfen - wer immer es ist, mit dem du Geschäfte machst.«
Ein Ruck durchlief seinen Körper. Er bewegte den rechten Arm. Zitternd deutete er auf seine Brusttasche, wollte etwas sagen, aber es drang nur ein Krächzen aus seiner Kehle. Gwaysi beugte sich vor, öffnete den Klettverschluss der Tasche und zog ein Tekknik -Ding hervor. Es war ein eckiger, metallener Kasten, nicht größer als drei nebeneinander liegende Finger.
Sie stand auf, bettete Rothschilds haarlosen, schwärenden Schädel auf den Boden und betrachtete das Ding von allen Seiten. Da waren Knöpfe und Rillen, und ein kurzer Stummel am oberen Ende. »Wie geht das?«
Rothschild starrte sie an. Sein Blick schien zu brennen. Er hustete, bäumte sich auf, und vor seinem Mund schäumte Speichel. Speichel, der erst weiß war, sich aber rasch rot färbte.
Gwaysi drückte voller Entsetzen der Reihe nach jeden Knopf an dem Gerät, bevor sie es am Ende fallen ließ wie ein Stück glühende Kohle und sich hinunter zu Rothschild beugte. »Liebster…«
Der Enthäutete bäumte sich noch einmal auf, so heftig, dass es aussah, als wollten die Organe aus ihm herausplatzen - und als er danach zurücksank, wusste Gwaysi, dass für ihn jetzt alles überstanden war.
Es dauerte eine Weile, bis in ihr Bewusstsein drang, dass es dort, wo sie das Gerät fallen gelassen hatte, zu knistern und zu rauschen begonnen hatte. Und plötzlich sagte eine Stimme: »Rothschild? Melden Sie sich! Was ist passiert? Wo sind Sie, verdammt…?«
Sie hatte ihn begraben. Mit ihren bloßen Händen und unweit des Ortes, an dem er zu Tode gekommen war. Gwaysi fürchtete die Rückkehr des Ungeheuers nicht. Im Gegenteil. Es gab Momente, während sie mit ihren Fingern im schlammweichen Grund nach dem Wolkenbruch grub, da sie sich beinahe wünschte , die Snäkke möge zurückkehren und sie auch umbringen.
Doch immer wenn sie so weit war, sich vollkommen aufzugeben, zuckte sie innerlich davor zurück.
Sie wuchtete Rothschilds Leichnam in die ausgehobene, gerade mal unterschenkeltiefe Grube und küsste ihn zum Abschied auf den verätzten Mund. Es war nicht mehr als ein Hauch, dennoch spürte sie sofort ein Prickeln, als wollte sich die Haut von ihren Lippen schälen. Dann schaufelte sie nasse Erde über den Toten und häufte zum Schluss Steine auf das Grab, damit es umherstreunenden Tieren schwerer gemacht wurde, den Leichnam wieder auszugraben.
Dreckig und verschwitzt, dazu stinkend und durchnässt wandte sie sich ab und nahm den Rucksack vom Boden auf, in dem sich das befand, wofür Rothschild letztlich gestorben war. Seine ganze Reise hatte nur dem Artefakt gegolten, das der Retrologe Angus Corr gestohlen hatte.
Gwaysi nahm das Funksprechgerät aus der Seitentasche des Rucksacks und drückte den Knopf, den sie inzwischen kannte. »Ich wäre dann so weit«, meldete sie dem Unbekannten am anderen Ende der Verbindung. »Ich habe ihn begraben und komme jetzt. Und wenn dir wirklich so viel an dem beschissenen Ding liegt, an dem ich mir den Rücken aufschürfen werde, dann sorg dafür, dass ich heil bei dir ankomme!«
Stunden später blieb Gwaysi auf einer Anhöhe stehen, von der aus sie die Ebene unter sich überschauen konnte.
»Du bist gleich da«, behauptete die Stimme aus der Metallschachtel. »Siehst du die hoch aufragenden Türme? Die Wetterballons im Zentrum? Orientiere dich an den Ballons, sie markieren den Eingang. Dort warte ich auf dich.«
Gwaysi suchte vergeblich nach einem Gebäude - aber die Ballons konnte sie in der Entfernung ausmachen. Am liebsten hätte sie den Rucksack abgestreift und fallen lassen. Im Nachhinein bewunderte sie Rothschild dafür, dass er ihn ohne Klagen über eine noch weitere Strecke getragen hatte. Aber das letzte Stückchen würde sie auch noch schaffen. Was für einen Sinn hätte es gemacht,
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