256 - Der König von Schottland
sie vor Einbruch der Dunkelheit mit dem Rudel Nackthäute verschwunden war? Oder würde sie auch seine Witterung aufnehmen und herauskommen?
Der Weißpelz verharrte neben dem Stamm einer knorrigen Eiche. Er spitzte die Ohren und reckte seine Nase. Weder spürte er die feuchten Schneeflocken, die sich auf das dreieckige schwarze Fellbüschel zwischen seine gelben Augen verirrt hatten, noch das stachelige Unterholz an seinen kräftigen Flanken. All seine Sinne waren nur auf die Gerüche und Geräusche seiner Umgebung gerichtet.
Dann witterte er die Schwarze. Jeder Muskel seines mächtigen Leibes zitterte vor Aufregung, als sich entlang des Waldrands der dunkle Schatten der Lupa näherte. Sobald ihr heiseres Bellen ertönte, gab es kein Halten mehr. Ungestüm sprang er aus seiner Deckung. Winselnd tobte er ihr über die Schneedecke der Lichtung entgegen.
Erst als er erkannte, wie die Schwarze ihn mit gesenktem Schädel und gesträubtem Nackenfell erwartete, stemmte er sich so abrupt in den feuchten Untergrund, dass kleine Schneewolken aufstoben. Einer ihrer Vorderläufe war in weißen Stoff gewickelt, was sie beim Laufen behinderte.
Unruhig beobachtete er das Lauern ihrer gelben Augen und die Fänge, die in doppelten Reihen oben und unten in ihrem Maul schimmerten. Ein leises Grollen rollte aus ihrer Kehle. Nur mit Mühe widerstand er dem Drang, sich vor der Schwarzen auf den Rücken zu werfen. Stattdessen streckte er seine Rute und fletschte die Zähne.
Fast augenblicklich verebbte das Knurren der Lupa. Schnüffelnd hob sie ihre Nase. Dann reckte sie ihren schwarzen Leib und entließ ihrem geöffneten Maul ein herzhaftes Gähnen.
Schließlich ließ sie sich gemächlich auf der Schneedecke nieder. Mit wedelndem Schwanz lud sie den Weißen ein, näher zu kommen.
***
Während sich die beiden Lupas noch im Schnee vergnügten, wälzte sich im nahen Kastell Jed Stuart in seinen verschwitzten Laken. Im Halbschlaf strichen chaotische Bilder durch die Nebel seines Verstandes. Nimuee, die ihn mit vorwurfsvollen Blicken strafte. Die besorgten Augen von Pat Pancis und Cris Crump. Rulfans bleiches Gesicht, das gezeichnet war von Trauer und Schmerz. Und Majela, die ihn am meisten quälte.
Doch in der Schattenwelt zwischen Schlafen und Wachen war noch eine andere Stimme zu hören: die von Commander Matthew Drax. Ihr Klang umfloss Jeds gepeinigten Geist wie kühles Wasser. Solange, bis die gespenstischen Gesichter und Luthers Fratze endlich verschwunden waren.
Warum konntest du uns damals nicht gegen die Daa'muren helfen? , hörte er Matt immer wieder fragen. Was hat dich aufgehalten?
Jed stöhnte, während ihn der misstrauische Blick seines einstigen Weggefährten verfolgte. Warum nur hatte er sich ihm nicht anvertraut? »Ich kann es… dir nicht sagen«, ächzte er im Halbschlaf. Schweißgebadet warf er den Kopf von einer Seite auf die andere. Mauern, überall diese Mauern. Wenn ich die ganze Wahrheit preisgebe, stürzen sie ein. Begraben mich unter sich. Mich und… Luther!
Stirling, September 2521
Die Verteidiger lauerten an den Fenstern neben der Tür. Links Jed Stuart und Lieutenant Pancis, rechts die beiden Celtics. Draußen spannte der Spätnachmittag eine Decke aus grauen Wolken über den gesamten Himmel. Schatten huschten über die Straße. Sofort schossen die übermüdeten Männer. Doch sie richteten nur Schaden an der gegenüber liegenden Häuserfront an.
Jed Stuart starrte aus rot unterlaufenen, immer wieder zufallenden Augen auf seine Uhr. Huul war seit knapp achtundvierzig Stunden unterwegs. Hatte es der Anführer seiner Leibwache geschafft, sich nach Stuart Castle durchzuschlagen? War er bereits mit Verstärkung auf dem Weg? Oder würden die Barbaren dort draußen ihnen irgendwann Huuls Kopf vor die Tür werfen?
Seit drei Stunden hatte der Gegner nichts Staatstragendes mehr unternommen, außer sich immer wieder kurz zu zeigen und sie so nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Die Barbaren steckten in den umliegenden Straßen und Häusern. Was plante der Anführer, dieser große, düstere Krieger, den er ein paar Mal von weitem gesehen hatte und den seine Männer »Luther« riefen? Zu Hunger und Müdigkeit kam nun auch noch ein äußerst nervöses Magendrücken bei Jed Stuart. Er spürte, dass irgendetwas kurz bevorstand.
Auf den Dächern der Häuserfront gegenüber wurde plötzlich rötlichgelbes Flackern sichtbar.
»Brandpfeile«, sagte einer der Celtics. Sein weißgrün gestreiftes Hemd hing nur noch in
Weitere Kostenlose Bücher