256 - Der König von Schottland
gestern nur andeutungsweise geredet hatte. Überhaupt hätte er Jed gern gefragt, was hier eigentlich los war. Besonders nachdem er sich in aller Frühe lange mit Aruula über das merkwürdige Verhalten der Burgbewohner ausgetauscht hatte. Doch so wie Stuart augenblicklich gestimmt war, würde er sich nur eine Abfuhr holen. Also beschloss er auf eine bessere Gelegenheit zu warten.
Nachdem sie ihr schweigendes Mahl beendet hatten, brachen sie, begleitet von Patric Pancis und einem halben Dutzend Soldaten, auf, um Jeds Ländereien zu besichtigen. Rulfan gab Chiras Drängen nach, mitzukommen. Ihr Bruch war gut verheilt, und sie würden nur im Schritt reiten. Es schneite nicht mehr. Stattdessen waberte - typisch für die britanischen Inseln - dichter Nebel und legte sich wie Watte über die ganze Gegend. Um das Kastell war er sogar noch dichter, was wohl mit dem Wassergraben zusammenhing.
»Lohnt sich die Reise überhaupt?«, fragte Matt. »Ich kann ja kaum die Hand vor Augen sehen.«
»Nebel kommt, Nebel, äh, geht«, erwiderte Jed. »Das wird schon.«
Nach einer Stunde Ritt durch Nadelwälder und Eichenhaine gelangten sie in eine märchenhaft anmutende Hügellandschaft. Inzwischen hatte die durchbrechende Sonne den Nebel tatsächlich weitgehend aufgelöst.
Jed, inzwischen wieder lebhafter geworden, deutete mal nach rechts, mal nach links und erklärte den Freunden die unsichtbaren Grenzen zu den Gebieten der verschiedenen Highland-Scoots. »Da drüben beginnt das, hm, Land der Mecgregers. Ganz da hinten, in den, äh, Bergen, geht's zu den Freesas, und rechts von euch geht's hinunter zu den, ähm, Weiden der Cembells, dem Clan Nimuees.«
Auch wenn sich Matt Drax keine klare Vorstellung über die Größe der einzelnen Gebiete machen konnte, staunte er über das gewaltige Areal, das sein einstiger Weggefährte inzwischen zu regieren schien. Was Stuart dann über die regelmäßigen Treffen der Clans berichtete, wie sie Gesetzgebung und Rechtsprechung regelten und ihre Allianz gegen die aufständischen Lowlander manifestierten, erinnerte den Mann aus der Vergangenheit ein wenig an die Verhältnisse im Europa seiner Zeit.
Jed gab den Clans, wie einst das Europäische Parlament, ein schützendes Dach, unter dem alle wohnten. Er setzte nur ein paar Dinge durch, die für das gemeinsame Zusammenleben wichtig waren, ließ den Chieftains aber ansonsten ihre volle Souveränität und den Sippen ihre lokalen Eigenheiten. Offenbar waren die verschiedenen Clanführer zufrieden mit seinen Entscheidungen und standen in der Mehrzahl geschlossen hinter ihm. Denn sie hatten längst gemerkt, dass diese Einheit ihnen mehr nützte als schadete.
Aber entsprach das auch alles der Wahrheit? Bereits kurze Zeit später plagten Matt heftige Zweifel. Als die Reiter das erste Dorf erreichten, das einfache, nicht einem Clan angehörige Menschen bewohnten, riefen Mütter aufgeregt ihre spielenden Kinder in die Hütten. Die Marktleute verließen die Feuer an ihren Ständen. Allesamt flüchteten sie in ihre Behausungen und verrammelten Fenster und Türen. Nur eine Handvoll Männer standen mit Mistgabeln und Äxten bewaffnet am Wegesrand. Als die Gefährten ihnen im Vorbeireiten freundlich zunickten, ernteten sie nur finstere Blicke.
Jed Stewart schien sie gar nicht zu beachten. Flankiert von seinen Celtics und den Blick stur nach vorne gerichtet, durchritt er das eisige Schweigen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Doch ganz so gelassen wie er tat, war er anscheinend nicht: Matt beobachtete, wie Jeds Linke über den Auslöser des Lasergewehrs glitt; die Waffe war entsichert! Erst als sie die Siedlung hinter sich gelassen hatten, rückte der Linguist mit einer Erklärung für das seltsame Verhalten der Leute heraus.
»Es ist dieser, hm, verfluchte Barbarenstamm aus den Lowlands, der die Menschen hier so feindselig stimmt. Immer wieder werden die armen Leute von ihnen überfallen und ausgeraubt. Sie erwarten von mir, dass ich dem Treiben endlich ein, ähm, Ende bereite, denn ich garantiere ihnen ja ihre Sicherheit. Doch bislang, hm, schlug jeder Versuch fehl, den Anführer der feigen Bande, nun, dingfest zu machen. Der Kerl, der die Stämme des Südens hinter sich weiß, ist wie ein, ähm, Geist. Kaum glaubt man ihn und seine Männer so gut wie gefasst zu haben, löst er sich, hm, plötzlich in Luft auf.«
Überrascht, dass Jed nun von ganz alleine auf Luther zu sprechen kam, ergriff Matt die Gelegenheit beim Schopfe und
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