257 - Die Spur der Schatten
an, um sie von den Schafen fernzuhalten. Einem zerriss die Katze mit einem Prankenhieb die Kehle, der zweite ließ dennoch nicht von seinen Angriffen ab. Vor der Mauer auf der anderen Seite der Weide jagte eine dritte Raubkatze einem einzelnen Schaf nach. Ein Hirtenhund lag dort reglos im Schnee, und ganz rechts, an dem Mauerstück, das dem Dorf am nächsten war, hatten sich Dutzende Schafe hinter dem Hirten zusammengedrängt und blökten verzweifelt.
Der Hirte, ein großer kräftiger Mann, hockte reglos auf einem Holzpflock und hielt sich an seinem Hirtenstab fest. Schnee lag auf seinem Hut, seinen Schultern und Schenkeln. Er machte nicht die geringsten Anstalten, die Raubkatzen zu vertreiben. Matt Drax sah es, und seine Nackenhaare richteten sich auf.
Der Mann aus der Vergangenheit holte tief Luft und brüllte aus Leibeskräften. »Weg mit euch!« Er zog den Driller. »Haut ab, ihr Satansbraten!« Die Raubkatzen stutzten und duckten sich wie zum Sprung. Matt Drax zielte auf den pelzigen Räuber, der gerade den Hirtenhund getötet hatte, und drückte ab. Das Geschoss pfiff über die Schafe am Gatter und die erste Katze hinweg und traf das zweite Raubtier in die Flanke. Das Geschoss explodierte und die Explosionswucht riss das Tier einen halben Meter weit aus dem verschneiten Gras.
Die Schafe stoben in alle Richtungen davon, der Hirtenhund rannte winselnd zum Hirten, die beiden Raubkatzen hetzten in großen Sprüngen über die jenseitige Mauer, und die getroffene Katze schlug hart am Boden auf und blieb reglos liegen.
Matt Drax steckte den Driller ins Holster unter dem Pelzmantel und schwang sich über das Gatter. Einen Moment blieb er stehen und spähte nach allen Seiten: Die Schafe drängten sich blökend in den Ecken der Weide; der Hund stemmte neben seinem Herrn die Vorderläufe in den Schnee und hatte wohl beschlossen, sich die Kehle aus dem Leib zu bellen. Von Katzen keine Spur mehr; jedenfalls nicht von lebendigen Katzen.
Der Hirte rührte sich noch immer nicht. War er tot? Aber warum konnte er dann auf einem Pflock sitzen und seinen Hirtenstab festhalten? Eiskalt rieselte es Matt Drax den Rücken hinunter. Eine Ahnung stieg in ihm auf, aber er wollte sie nicht vertiefen. Nein. Das kann nicht sein.
Ohne den reglosen Hirten neben dem aufgeregten Hund aus den Augen zu lassen, schritt der Mann aus der Vergangenheit zu der getroffenen Katze und überzeugte sich davon, dass sie tot war. Nichts war gefährlicher als ein waidwundes Tier. Dann wandte er sich ab und ging zum Hirten.
Mit jedem Schritt, den er tat, wurde er langsamer. Der Mann auf dem Holzpflock war groß und breit, geradezu grobschlächtig. Keine Hände hielten den Hirtenstab fest, sondern gewaltige Pranken. Er hatte einen langen wilden Bart. Wie festgefroren hockte er da, zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»Was ist mit Ihnen?«, sprach Matt Drax ihn schon von weitem an. Der Hund bellte heiser. Mit jedem Schritt, den Drax tat, zog er sich ein Stück weiter zu den Schafen an der hinteren Mauer zurück. Zehn Schritte trennten Matt noch von dem unheimlichen Mann. »Antworten Sie!« Keine Reaktion, nichts. Langsam ging Matt weiter.
Zwei Schritte vor der Gestalt blieb er stehen. Als er die Wahrheit nicht länger leugnen konnte. Die Haut des Mannes schimmerte hell. Aber nicht etwa, weil er erfroren wäre. Matt ging in die Hocke und blickte ihm ins bärtige Gesicht. Schnee häufte sich auf dem Nasenrücken. Das Gesicht, der ganze Mann war… versteinert!
***
Jennifer Jensens Tagebuch
Einen halben Tag und eine ganze Nacht lang waren wir beide allein. Pieroo hatte die Fährte einer Wildsauherde entdeckt. Mit seinem neuen Jagdbogen wollte er einen Frischling erlegen. Doch er kam und kam nicht von der Jagd zurück.
Anders als du, machte ich mir große Sorgen. »Hab keine Angst, Mama«, hast du zu mir gesagt, als die Nacht hereinbrach und Pieroo immer noch nicht in die Höhle zurückgekehrt war, in der wir uns verborgen hielten. »Er wird ganz bestimmt kommen, er muss uns ja noch zu dieser schönen Insel führen.« Danach bist du eingeschlafen, während ich wach und voller Angst neben dir lag und in den dunklen Wald außerhalb der Höhle lauschte. Deine Worte hatten meine Angst noch verstärkt: »Er muss uns ja noch zu dieser Insel führen…«
Manchmal kommst du mir vor wie ein Orakel.
Irgendwann gegen Morgen muss ich doch noch eingeschlafen sein. Als ich die Augen aufschlug, war die Sonne aufgegangen und Raureif bedeckte das Unterholz. Der erste
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