2574 - Das Lied der Vatrox
Lucba ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, dass es an der Zeit war zu
verschwinden.
»In neunzig Jahren«, hatte Lucba lachend erwidert. »Hab dich nicht so! Ich weiß doch ganz
genau, wie ihr Männer diese Tage für euch genießt, wenn alles stillgelegt ist und die Arbeit
vollständig ruht. Der ganze Planet feiert, gib's zu! Darüber solltest du dich ärgern, dass
es nur alle neunzig Jahre dazu Gelegenheit gibt!«
Sanft setzte der Gleiter in einer Landebucht bei einem der Nebeneingänge auf, und Lucba stieg
aus. Sie spürte, wie sich die Gesichtshaut stark spannte, und die Haut ihrer tief liegenden
Ohrmuscheln schwoll an.
Sie hatte schon mehrere Testläufe gestartet, doch jetzt kam es darauf an. Dies war die
Generalprobe vor der Premiere. Ging etwas schief, war es eine Katastrophe, und Lucba war
erledigt. Dann würde sie unter Garantie alle Privilegien verlieren. Denn sie hatte sonst nichts,
kein weiteres Talent. Wahrscheinlich musste sie sogar auf einen Männerkontinent umziehen ...
falls sie überhaupt noch einen Sinn im Leben sah.
Nein, Versagen kam nicht infrage, nicht zu diesem Großereignis. Es wäre die größte denkbare
Schande. Nicht einmal Usgan Faahrs Zuneigung könnte dann noch etwas retten, auch ihn hätte sie
verloren ...
Nichts mehr bliebe ihr, gar nichts ...
*
Lucba benutzte eine bestimmte Atemtechnik, um sich einigermaßen zu entspannen und ihre
Nervosität nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Vatrox schätzten starke emotionale
Ausdrucksweisen nicht, sie zogen es vor, stets beherrscht und nach dem Verstand zu agieren.
Sie passierte die Eingangskontrolle und verharrte für einen Moment in der kühlen dämmrigen
Stille. Selbst in diesem Gang war die Erhabenheit des Gebäudes deutlich spürbar. Alle mentalen
Energien, die jemals freigesetzt worden waren, schienen an diesem Ort eingefangen worden zu sein
und die Atmosphäre aufzuladen. Die Luft knisterte und verströmte einen Geruch besonderer
Reinheit.
Auch das war wichtig: der richtige Ort für dieses Experiment. Der Versuchsaufbau konnte nicht
überall erfolgen. Viele Misserfolge der vergangenen Jahre hatten Lucba zu diesem Ergebnis
gebracht, gerade als sie sich ihr Scheitern eingestehen wollte.
Es gab nur einen einzigen Gang in diesem Gebäude, der an der Außenwand entlangführte. Viele
Konferenzräume und Versammlungssäle waren durch Türen nach innen erreichbar. In regelmäßigen
Abständen führte ein direkter Durchgang ins Zentrum, die riesige Kuppelhalle, die bis zum Zenit
des Daches emporreichte.
Genau in diese Halle führte Lucba Ovichats Weg. Sie hatte es geschafft, die Genehmigung für
die Nutzung dieser Halle zu erhalten, damit so viele Frauen wie nur möglich daran teilhaben
konnten. Wenn alles gut ging, würde Lucbas Präsentation eine Umwälzung des gesamten Gefüges
herbeiführen und ein Umdenken erfordern. Es wäre ohne Übertreibung die größte Sensation aller
Zeiten.
Kein Wunder, dass sie nervös war und dass ihre Ohrmuscheln sich bereits wieder aufblähten.
Wahrscheinlich waren sie bald so groß, dass sie mit ihnen nur flattern musste, um fliegen zu
können.
Die Türkontrolle verlangte Zugangsberechtigung. Normalerweise stand die Besinnung offen
für jeden, aber nicht während dieser Tage. Das Fest der Frauen stand bevor, das nur alle neunzig
Jahre stattfand, wenn der planetenweite Großkreis gebildet wurde. Wenn alle Frauen überall
auf Vat - Vatar III, wie die Männer sagten - sich mental miteinander verbanden und zu einem
großen Ganzen wurden.
»Es ist eine große, sehr große Ehre für mich, das Beiprogramm mitgestalten zu dürfen«,
murmelte Lucba vor sich hin, während sie die langgliedrige, schmale Hand zur Identifikation an
den Scanner hielt; seit Tagen übte sie ihre Eröffnungsrede.
Die Tür öffnete sich, und kühle, trockene Luft wehte Lucba entgegen. Sie drehte sich um, als
sie eine Stimme hörte, die sie als jene von Olea Merivu erkannte, der hauptverantwortlichen
Organisatorin des Festivals.
Überall in Destita wurden Stände und Märkte aufgebaut, und Servicebereiche, wo die Frauen
Speise und Trank zu sich nehmen und beisammensitzen konnten. Überall standen Beschallungsanlagen
für Durchsagen und Musik, an markanten Stellen waren Podeste und kleine Bühnen für Vorträge und
Vorführungen errichtet.
»Lucba! Bist du hier, um dein Programm noch einmal zu überprüfen?«
Die Historikerin machte eine zustimmende
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