266 - Das Todesschiff
seiner weiteren Mitarbeit zu versichern, musste sich das Reichssicherheitshauptamt bereit erklären, ein paar Kisten Kunst und Antiquitäten nach Bayern auszufliegen.« Holtz deutete zur Tür. »Um was wir uns gerade bemühen - mit Hilfe meiner Verlobten, die einen Pilotenschein besitzt. Unsere Führung in Berlin hat in der gegenwärtigen Lage keinen Flieger übrig, den sie uns zur Verfügung stellen konnte. Die werden alle für die Flucht benötigt.«
Hasso spürte einen Schwindelanfall. Leonie war Holtz' Braut? Wieso hatte sie ihm nichts davon erzählt?
Weil sie keinen Grund dazu hat. Du bist nicht ihr Ex-Geliebter, sondern nur der kleine Bruder ihrer einstmals besten Freundin. Sie weiß doch nicht mal, dass du blöde Rotznase in sie verknallt warst. Er schaute auf. »Das sind offene Worte. Besonders für einen SS-Mann.«
»Ich mache mir nur nichts vor.« Holtz blickte auf die verschneite Landschaft vor dem Fenster. »Wir sind nicht auf dem Rückzug; wir sind auf der Flucht.« Seine Miene verfinsterte sich.
Bevor Hasso etwas darauf entgegnen konnte, erklang ein gewaltiges Ka-Wumm! und er spürte eine heftige Bodenvibration. War das Haus getroffen?
Die Bibliothekstür wurde aufgestoßen. Schröder stürmte herein. »Der Iwan!« Er deutete zum Dach hinauf. »Es sind Panzer im Anmarsch! Müller hat sie im Visier. Sie schießen das Dorf da hinten zusammen!«
Das Dorf?
Hasso zuckte zusammen.
Holtz eilte mit Schröder hinaus. Hasso verharrte und dachte kurz nach. Das Dorf war drei Kilometer entfernt. Der Feind würde wahrscheinlich nicht schon in einer Minute vor der Tür stehen. Allerdings war das Gebäude bei klarer Sicht vom Dorf aus zu erkennen und damit ein potentielles Ziel für jeden Kanonier der Roten Armee.
Ein baldiger Abzug war also angeraten; ob in Begleitung der SS oder allein, war Hasso egal. Angesichts der prekären Lage war ihm auch die weitere Existenz der elterlichen Kunstschätze nicht mehr wichtig. Wichtig war, dass Friedrichsen und er sich mit dem Kübelwagen vom Acker machten, bevor die Roten das Haus entdeckten und hier aufkreuzten.
Der Grund seines Hierseins fiel ihm ein. Hatte er noch die Zeit, um sein Tagebuch zu holen?
Ka-Wumm! ging es wieder. Und noch einmal: Ka-Wumm!
Dann knatterten Maschinenpistolen und Gewehre los.
Hasso setzte sich in Bewegung. Als er die Halle durchquerte, nahm er die SS-Männer, die den Kübelwagen beluden, nur aus den Augenwinkeln wahr. Ka-Wumm! Ka-WUMMM!
Im Nu war er die Treppe hinauf und lief über die Galerie. Wieder vibrierte der Boden. Das Getöse wurde lauter. Allem Anschein nach hatte sich im Dorf das letzte Wehrmachts-Aufgebot verschanzt, denn nun hörte man auch das charakteristische Knallen explodierender Handgranaten und das dumpfe Buff ! von Panzerfäusten.
Hasso passierte das geräumige Wohnzimmer, als ihm ein behelmter SS-Rottenführer mit einem gerahmten Monet entgegenkam. Er stolperte über die eigenen Beine; das Gemälde entglitt seinen Händen und flog im hohen Bogen über das Geländer der Galerie. Die Chancen, dass es unbeschädigt unten ankam, standen mehr als schlecht.
Der Rottenführer - ein Kunstfreund oder doch eher -dieb? - stieß einen entsetzten Schrei aus. Hasso beachtete ihn nicht weiter. Er nahm schon die nächste Treppe, die ihn zu seinem alten Zimmer führte.
Er hatte kein Auge für das Mobiliar. Er riss die Tür des Schrankes auf, in dem sein Tagebuch lag und…
Das Tagebuch war weg! Auf dem leeren Brett lag ein von seiner Mutter unterschriebener Zettel. Hasso nahm ihn auf und las den in sauberer Sütterlin-Schrift verfassten Brief.
Mein lieber Junge,
gerade eben erhielten wir Besuch von Herren in schwarzer Uniform, die uns ersuchen, das Anwesen auf schnellstem Wege zu verlassen. Sie werden uns zu Onkel Poldi nach Bad Tölz schaffen. Wir haben wenig Zeit und dürfen kaum Gepäck mitnehmen, aber ich möchte nicht gehen, ohne das mitzunehmen, was Dir das Teuerste ist: die Sammlung Deiner Gedichte.
Ich hoffe, dass Du die dunklen Stunden, in die uns Herr Hitler geführt hat, mit heiler Haut überstehst und Dich bald wieder zu uns gesellen kannst.
Gott segne Dich, Hasso.
Deine Mutter,
Therese
Freifrau v. Traven
Ach, Mama. Hasso wischte sich verstohlen eine Träne aus dem linken Augenwinkel.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie Dichter sind«, sagte Holtz im Hintergrund.
Hasso wäre am liebsten im Boden versunken. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er die Zeilen laut gelesen hatte, so in sich versunken, dass er
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