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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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jungen Spanier, der in einer Pariser Dachkammer wohnte, fragte der Dichter, ob sie Schokolade dabeihätten. Nein, sagte Lola. Zurzeit rauchen wir nichts, bekräftigte Imma, unsere ganze Energie ist darauf konzentriert, dich hier rauszuholen. Der Dichter lächelte. Ich meine nicht solche Schokolade, sondern die normale, aus Kakao, Milch und Zucker. Ah, verstehe, sagte Lola, und beide mussten zugeben, dass sie auch so etwas nicht dabeihatten. Sie erinnerten sich, dass in ihren Rucksäcken noch zwei in Servietten und Alufolie verpackte Käsebrote lagen, aber der Dichter schien sie nicht zu hören. Bevor es dunkel wurde, kreiste ein Schwarm großer schwarzer Vögel über dem Park und flog dann Richtung Norden davon. Über den Kiesweg näherte sich, weißer Kittel flatternd in abendlicher Brise, ein Arzt. Als er sie erreicht hatte, fragte er den Dichter, den er wie einen alten Jugendfreund beim Vornamen nannte, wie er sich fühle. Der Dichter sah ihn mit einem leeren Ausdruck an und antwortete ebenfalls duzend, er sei etwas müde. Der Arzt, der Gorka hieß und nicht älter als dreißig sein konnte, setzte sich neben ihn, legte ihm eine Hand auf die Stirn und fühlte dann seinen Puls. Dir geht es ja bombig, Mann, diagnostizierte er. Und wie ist das werte Befinden der jungen Damen? sagte er dann mit einem gesunden, optimistischen Lächeln. Imma antwortete nicht. Lola dachte in diesem Moment, Imma würde hinter ihrem Buch verschanzt das Zeitliche segnen. Sehr gut, sagte sie, wir haben uns lange nicht gesehen, und es war eine wunderbare Begegnung. Ihr kennt euch von früher? sagte der Arzt. Ich nicht, sagte Imma und verschwand wieder hinter ihrem Buch. Ich schon, wir waren vor einigen Jahren in Barcelona befreundet, als er noch in Barcelona lebte. Eigentlich, sagte sie, während sie aufschaute und den letzten Nachzüglern der schwarzen Vögel hinterhersah, die just in diesem Moment davonflogen, als jemand in der Anstalt über einen verborgenen Schalter die Parkbeleuchtung anstellte, waren wir etwas mehr als Freunde. Interessant, sagte Gorka und schaute den Vögeln hinterher, die Abendstunde und Laternenlicht in goldenen Glanz tauchten. In welchem Jahr war das? fragte der Arzt. 1979 oder 1978, ich erinnere mich nicht genau, sagte Lola mit fast unhörbarer Stimme. Nicht dass Sie mich für indiskret halten, sagte der Arzt, aber ich schreibe eine Biographie über unseren Freund, und je mehr ich über sein Leben in Erfahrung bringen kann, desto besser, die halbe Miete, nicht wahr? Eines Tages kommt er hier raus, sagte Gorka und strich sich die Brauen glatt, eines Tages wird die spanische Öffentlichkeit ihn als einen der Großen anerkennen müssen, ich behaupte nicht, dass man ihm einen Preis verleihen wird, keine Ahnung, den Príncipe de Asturias wird er nicht zu schmecken kriegen, den Premio Cervantes auch nicht, und auf einem Akademiesessel wird er sich schon gar nicht herumlümmeln, Literatenkarrieren in Spanien sind etwas für Arrivisten, für Opportunisten und Arschkriecher, verzeihen Sie den Ausdruck. Aber eines Tages kommt er hier raus. Das ist sicher. Eines Tages komme auch ich hier raus. Und alle meine Patienten und die Patienten meiner Kollegen. Eines schönen Tages werden wir aus Mondragón herauskommen, und diese ehrwürdige Einrichtung kirchlichen Ursprungs und karitativen Handelns wird leer zurückbleiben. Dann wird meine Biographie von allgemeinem Interesse sein, und ich werde sie veröffentlichen können, aber bis dahin muss ich, wie Sie verstehen werden, Namen und Daten zusammentragen, Anekdoten überprüfen, einige von zweifelhaftem oder sogar anstößigem Geschmack, andere eher pittoresk, Geschichten, die jetzt um ein chaotisches Gravitationszentrum kreisen, also um unseren hier anwesenden Freund oder um das, was er uns zeigen möchte, seine scheinbare Ordnung, eine Ordnung verbaler Natur, die mittels einer Strategie, die ich zu verstehen glaube, deren Ziel mir jedoch schleierhaft ist, eine verbale Unordnung verbirgt, die uns, sollten wir sie am eigenen Leib erfahren, und sei es nur im Rahmen einer Theateraufführung, bis zu einem schwer erträglichen Grade erschrecken würde. Sie sind ein Schatz, Doktor, sagte Lola. Imma knirschte mit den Zähnen. Lola wollte daraufhin schon Gorka ihr heterosexuelles Erlebnis mit dem Dichter erzählen, aber ihre Freundin verhinderte das, indem sie sich näherte und ihr mit der Schuhspitze gegen den Knöchel trat. In diesem Moment erinnerte sich der Dichter, der wieder

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