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nicht. Was zählt, ist nur, ob es gut geschrieben ist, sagte er. Nein, sagte ich, und das weißt du auch. Nein, nein, nein, sagte ich, und am Ende gab er mir recht. Er hieß Jordi, und heute gibt er möglicherweise Kurse an der Uni oder schreibt Rezensionen in La Vanguardia oder in El Periódico.
Den nächsten Brief bekam Amalfitano aus San Sebastián. Darin erzählte Lola, wie sie mit Imma zur Irrenanstalt von Mondragón gegangen war, um den Dichter zu besuchen, der dort maßlos und bewusstseinslos lebte, und dass die Wächter - als Wächter verkleidete Priester - sie nicht zu ihm gelassen hatten. In San Sebastián wollten sie ursprünglich bei einer Freundin von Imma unterkommen, einer Baskin, die Edurne hieß und ETA-Kämpferin gewesen war, bis sie nach dem Übergang zur Demokratie den bewaffneten Kampf aufgegeben hatte, und die sie nicht länger als eine Nacht in ihrem Haus unterbringen wollte, mit der Begründung, sie habe viel zu tun, und ihr Mann möge keine unerwarteten Besuche. Der Ehemann hieß Jan, und wirklich machten ihn die Besuche hochgradig nervös, wovon Lola sich selbst überzeugen konnte. Er zitterte, wurde rot wie ein glühender Tontopf, und obwohl er keinen Mucks von sich gab, sah es immer so aus, als würde er gleich losschreien, er schwitzte, seine Hände zitterten, ständig setzte er sich woanders hin, als könnte er es nicht länger als zwei Minuten am gleichen Platz aushalten. Edurne dagegen war eine sehr ruhige Frau. Sie hatte ein kleines Kind (das sie nicht zu Gesicht bekamen, da Jan immer irgendeinen Vorwand fand, warum Imma und sie das Zimmer des Kleinen nicht betreten konnten) und arbeitete fast den ganzen Tag als Sozialarbeiterin mit Familien von Drogenabhängigen und mit den Bettlern, die sich auf der Freitreppe der Kathedrale von San Sebastián scharten und nur in Ruhe gelassen werden wollten, wie Edurne lachend erklärte, als hätte sie damit einen Witz erzählt, den nur Imma verstand, denn weder Lola noch Jan lachten. Sie aßen noch gemeinsam zu Abend, und am nächsten Tag zogen sie wieder los. Sie fanden eine billige Pension, die Edurne ihnen genannt hatte, und trampten zurück nach Mondragón. Erneut war es ihnen nicht möglich, die Gebäude der Anstalt zu betreten, und sie begnügten sich damit, sie von außen zu mustern und sich alles einzuprägen, die Lehm- und Kieswege, die hohen grauen Mauern, die Erhebungen und Windungen des Geländes, die Spaziergänge der Irren und des Personals, das sie aus der Ferne verfolgte, den Saum der Bäume, die sich in willkürlicher oder logisch für sie unverständlicher Folge aneinanderreihten, und die Büsche und Sträucher, in denen sie Fliegen zu sehen glaubten, woraus sie schlossen, dass einige Irre und der eine oder andere Angestellte der Verwaltung dort pinkelten, wenn es dämmerte oder die Nacht hereinbrach. Danach setzten die beiden sich an den Straßenrand und aßen die Käsebrote, die sie sich aus San Sebastián mitgebracht hatten, wortlos oder wie in sich gekehrt über die gebrochenen Schatten sinnierend, die das Irrenhaus von Mondragón auf seine Umgebung warf.
Für den dritten Versuch vereinbarten sie telefonisch einen Besuchstermin. Imma gab sich als Journalistin aus, die für eine Literaturzeitschrift aus Barcelona schrieb, und Lola als Lyrikerin. Diesmal konnten sie ihn sehen. Lola fand ihn gealtert, seine Augen eingesunken, das Haar schütterer als damals. Anfangs begleitete sie ein Arzt oder Geistlicher, mit dem sie durch endlose, blau und weiß gestrichene Flure liefen, bis sie zu einem unpersönlichen Zimmer gelangten, wo der Dichter sie erwartete. Lola hatte den Eindruck, dass die Leute im Irrenhaus stolz darauf waren, ihn als Patienten hier zu haben. Alle kannten ihn, alle sprachen ihn an, wenn er in den Gärten spazieren ging oder seine tägliche Ration Beruhigungsmittel bekam. Als sie miteinander allein waren, sagte sie zu ihm, dass sie ihn vermisse, dass sie eine Zeitlang Tag für die Tag die Wohnung des Philosophen im Ensanche überwacht habe, ihn aber trotz ihrer Beharrlichkeit nicht habe wiedersehen können. Meine Schuld ist es nicht, sagte sie, ich habe getan, was ich konnte. Der Dichter schaute ihr in die Augen und bat sie um eine Zigarette. Imma, die neben der Bank stand, auf der die beiden saßen, reichte ihm wortlos eine Zigarette. Der Dichter bedankte sich, dann sagte er: Beharrlich. Das war ich, war ich, war ich, sagte Lola zur Seite gewandt, ohne ihn aus dem Auge zu lassen, sah aber dennoch aus dem
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