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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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geringsten Lärm gehört hatte, kein Schreien, kein Bremsen, kein Reifenquietschen. Bei der Suche nach anderen Gründen, die Lucy Annes Anwesenheit im Krankenhaus plausibel erscheinen ließen, kam ihr nur plötzlicher Gedächtnisverlust in den Sinn. Das aber war so wenig wahrscheinlich, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. Im Übrigen war in keinem der von ihr besuchten Krankenhäuser eine US-Amerikanerin registriert. Im letzten Haus riet ihr eine Krankenschwester, sie solle es bei der Amerikanischen Klinik versuchen, einer halb privaten Einrichtung, aber sie antwortete mit einem gequälten Lachen. Wir sind Arbeiterinnen, Schätzchen, sagte sie auf Englisch. So wie ich, sagte die Krankenschwester ebenfalls auf Englisch. Sie sprachen eine Weile miteinander, dann lud die Krankenschwester sie auf einen Kaffee in die Cafeteria des Krankenhauses ein, wo sie ihr erzählte, dass in Santa Teresa viele Frauen verschwanden. In meinem Land auch, sagte Erica. Die Krankenschwester sah ihr in die Augen und schüttelte langsam den Kopf. Hier ist es schlimmer, sagte sie. Beim Abschied tauschten sie ihre Telefonnummern aus, und Erica versprach, sie auf dem Laufenden zu halten. Auf der Terrasse eines Restaurants in der Innenstadt aß sie zu Mittag, und zweimal glaubte sie, sie hätte Lucy Anne auf dem Fußweg gesehen, das eine Mal ihr entgegenkommend, das andere Mal sich entfernend, aber beide Male war es dann doch jemand anders gewesen. Sie achtete kaum auf das, was sie bestellte, und zeigte wahllos auf zwei nicht allzu teure Gerichte. Beide waren sehr scharf gewürzt, und nach einer Weile tränten ihr die Augen, ohne dass sie deswegen aufhörte zu essen. Anschließend fuhr sie zu dem Platz, wo Lucy Anne verschwunden war, parkte im Schatten einer großen Eiche und schlief, die Hände am Steuer, ein. Als sie aufwachte, fuhr sie zum Konsulat, wo ihr der Typ namens Kurt A. Banks einen anderen Typen namens Henderson vorstellte, der ihr mitteilte, dass es noch zu früh sei für Fortschritte im Fall ihrer verschwundenen Freundin. Sie fragte, wann die Zeit für Fortschritte reif sei. Henderson sah sie ungerührt an und sagte: In drei Tagen. Und fügte hinzu: Frühestens. Als sie schon gehen wollte, sagte Kurt A. Banks, der Sheriff von Huntville habe angerufen, nach ihr gefragt und sich nach dem Verschwinden von Lucy Anne Sander erkundigt. Sie bedankte sich und ging. Auf der Straße sah sie sich nach einer Telefonzelle um und rief in Huntville an. Rory Campuzano nahm ab und sagte, der Sheriff habe dreimal versucht, sie zu erreichen. Jetzt ist er unterwegs, sagte Rory, aber wenn er zurückkommt, sage ich ihm, er soll dich anrufen. Nein, sagte Erica, ich bin selber noch unterwegs, ich rufe später noch mal an. Bevor es dunkel wurde, klapperte sie mehrere Hotels ab. Die, die einen guten Eindruck machten, waren zu teuer, und schließlich nahm sie ein Zimmer in einer Pension in der Siedlung Rubén Daría, ohne Bad und Fernseher. Die Dusche war auf dem Flur und besaß einen kleinen Riegel, um sie von innen zu verschließen. Sie zog sich aus, ließ aber die Schuhe an, aus Angst, sich Pilze einzufangen, und stand lange unter dem Wasserstrahl. Eine halbe Stunde später ließ sie sich, noch immer in das Handtuch gewickelt, aufs Bett fallen, vergaß, den Sheriff von Huntville anzurufen, und schlief tief und fest bis zum nächsten Tag.
    An diesem Tag fand man Lucy Anne Sander unweit des Grenzzauns, wenige Meter neben einer Reihe von Öltanks, die die Straße nach Nogales säumten. Die Leiche zeigte tiefe Stichwunden im Bereich von Hals, Brust und Unterleib. Arbeiter hatten sie entdeckt und unverzüglich die Polizei verständigt. Dem Obduktionsbericht war zu entnehmen, dass man sie mehrfach vergewaltigt hatte, auch enthielt ihre Vagina erhebliche Reste von Samenflüssigkeit. Direkte Todesursache war einer der Messerstiche, wobei mindestens fünf weitere ebenfalls tödlich gewesen wären. Erica Delmore erfuhr davon, als sie im US-amerikanischen Konsulat anrief. Kurt A. Banks sagte, sie solle bitte sofort vorbeikommen, er müsse ihr etwas Trauriges mitteilen, doch angesichts ihrer Hartnäckigkeit und ihrer immer lauter werdenden Stimme wusste er sich nicht anders zu helfen, als ihr die nackte, traurige Wahrheit zu sagen. Bevor sie zum Konsulat fuhr, rief Erica den Sheriff von Huntville an, und diesmal erreichte sie ihn. Sie sagte, dass Lucy Anne in Santa Teresa ermordet worden sei. Soll ich dich abholen kommen?, fragte der Sheriff. Ich würde mich

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