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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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restliche Körper für fremde Blicke unsichtbar. Die Leiche lag auf dem Bauch, die Arme eng am Körper. An beiden Händen fehlten der kleine und der Zeigefinger. Im Bereich der Brust ahnte man Flecken geronnenen Bluts. Sie trug ein leichtes, maulbeerfarbenes Stoffkleid, eins von denen, die vorne geknöpft werden. Schuhe und Strümpfe fehlten. Bei der späteren gerichtsmedizinischen Untersuchung stellte man fest, dass nicht die zahlreichen Messerstiche in Brust und Arme ihren Tod verursacht hatten, sondern dass sie erwürgt worden, ihr Zungenbein gebrochen war. Es gab keine Anzeichen einer Vergewaltigung. Den Fall übernahm Kommissar José Márquez von der Kriminalpolizei, der die Tote schon bald als América García Cifuentes identifizieren konnte, Alter dreiundzwanzig, Kellnerin in der Bar Serafino's, die einem Luis Chantre gehörte, der ein langes Vorstrafenregister wegen Zuhälterei besaß und im Ruf eines Polizeispitzels stand. América García Cifuentes teilte sich eine Wohnung mit zwei Bekannten, beides Kellnerinnen, die nichts zu den Ermittlungen beitragen konnten. Zweifelsfrei fest stand nur, dass América García Cifuentes die Wohnung um siebzehn Uhr verlassen hatte, um ins Serafino's zu gehen, und bis vier Uhr morgens gearbeitet hatte, um welche Zeit die Bar geschlossen wurde. Sie kam nicht mehr zurück, sagten ihre Mitbewohnerinnen aus. Kommissar José Márquez sperrte Luis Chantre für zwei Tage ein, aber sein Alibi war wasserdicht. América García Cifuentes stammte aus dem Bundesstaat Guerrero und wohnte seit fünf Jahren in Santa Teresa, wohin sie zusammen mit einem Bruder gegangen war, der mittlerweile in den USA lebte, wie ihre Mitbewohnerinnen aussagten, mit dem sie aber nicht in Briefkontakt stand. Ein paar Tage lang nahm Kommissar José Márquez einige Kunden des Serafino's unter die Lupe, ohne das geringste Ergebnis.
    Zwei Wochen später, im Mai 1994, wurde Mónica Durán Reyes vor der Schule Diego Rivera in der Siedlung Lomas del Taro entführt. Sie war zwölf Jahre alt, ein wenig übermütig, aber eine gute Schülerin. Es war ihr erstes Jahr auf der Hauptschule. Ihre Mutter und ihr Vater arbeiteten beide in der Maquiladora Maderas de México, wo Möbel im Kolonial- und Landhausstil hergestellt wurden, die in die USA und nach Kanada exportiert wurden. Sie hatte eine jüngere Schwester, die zur Schule ging, und zwei ältere Geschwister, eine sechzehnjährige Schwester, die in einer Kabelfabrik arbeitete, und einen fünfzehnjährigen Bruder, der wie seine Eltern bei Maderas de México arbeitete. Ihren Leichnam fand man zwei Tage nach ihrer Entführung an der Hauptstraße zwischen Santa Teresa und Pueblo Azul. Sie war vollständig angezogen, die Tasche mit Büchern und Heften hing an ihrer Seite. Dem Obduktionsbericht zufolge war sie vergewaltigt und erwürgt worden. Bei den späteren Ermittlungen sagten Freundinnen aus, sie hätten Mónica in ein schwarzes Auto mit getönten Scheiben steigen sehen - ein Peregrino vielleicht oder ein MasterRoad oder ein Silencioso. Sie wirkte nicht so, als würde Zwang auf sie ausgeübt. Sie hätte Zeit gehabt, zu schreien, schrie aber nicht. Als sie eine Freundin erspähte, winkte sie ihr sogar zum Abschied zu. Sie machte keinen verängstigten Eindruck.
    Einen Monat später fand man, ebenfalls in der Siedlung Lamas del Toro, die Leiche van Rebeca Fernández de Hoyos, dreiunddreißig Jahre, dunkler Teint, langes, bis zur Taille reichendes Haar, die als Bedienung im El Catrín, einer Bar in der Calle Xalapa in der angrenzenden Siedlung Rubén Daría, gearbeitet hatte, nachdem sie in der Maquiladora Holmes & West und in der Maquiladora Aiwo entlassen worden war, weil sie dort Betriebsräte hatte gründen wollen. Rebeca Fernandez de Hoyos stammte aus Oaxaca, lebte jedoch schon seit über zehn Jahren im Norden von Sonora. Vorher, mit achtzehn, hatte sie in Tijuana gewohnt und war dort als Prostituierte registriert worden; außerdem hatte sie versucht, in den Vereinigten Staaten ein neues Leben zu beginnen, war aber viermal von der Migra nach Mexiko zurückgeschickt worden. Ihr Leichnam wurde von einer Freundin entdeckt, die einen Schlüssel zu ihrer Wohnung besaß und sich gewundert hatte, dass Rebeca nicht zur Arbeit im El Catrín erschien, die Tote war nämlich, wie sie später zu Protokoll gab, eine äußerst zuverlässige Person und kam nur dann nicht zur Arbeit, wenn sie sehr krank war. Ihre Wohnung hatte ausgesehen wie immer, das heißt, sie fand zunächst keinen

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