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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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aus Pappkarton, schwarz, violett oder orange bemalt, alle mit großen Tüten und breitem Lächeln, und in seinem Kopf blitzte die Idee auf (aber so kurz, dass sie ihm nicht einmal bewusst wurde), nach Huntville zurückzukehren und die ganze Sache zu vergessen. Dann ertönte die Stimme des Polizisten aus Los Angeles, der ihm einen Namen nannte: Raúl Ramírez Cerezo, und eine Adresse: Calle Oro Nr. 401. Kannst du Spanisch, Harry?, fragte die Stimme aus Kalifornien. Mit jedem Tag weniger, antwortete Harry Magaña. Um drei Uhr nachmittags, die Sonne brannte unbarmherzig, klingelte er in der Calle Oro bei Hausnummer 401. Ein etwa zehnjähriges Mädchen in Schuluniform öffnete die Tür. Ich suche Herrn Raúl Ramírez Cerezo, sagte Harry. Das Mädchen lächelte, ließ die Tür auf und verschwand in der Dunkelheit. Harry wusste erst nicht, ob er reingehen oder draußen warten sollte. Vielleicht war es die Sonne, die ihn nach drinnen trieb. Es roch nach Wasser, frisch gegossenen Blumen und feuchten und wieder getrockneten Pflanzenkübeln. Vom Eingangsbereich gingen zwei Flure ab. Am Ende des einen sah man einen grau gefliesten Patio und eine bewachsene Wand. Der andere war noch dunkler als der Empfangsraum, wenn es das war, wo er sich befand. Sie wünschen?, sagte eine Männerstimme. Ich suche Herrn Raúl Ramírez Cerezo, sagte Harry Magaña. Und wer sind Sie?, fragte die Stimme. Ein Freund von Don Richardson vom Los Angeles Police Departement. Sieh an, interessant. Und wozu wird der Herr Ramírez gebraucht? Ich bin auf der Suche nach jemandem, sagte Harry. Wie wir alle, sagte die Stimme in einem halb melancholischen, halb müden Ton. Am Nachmittag begleitete er Raúl Ramírez Cerezo zu einer Polizeidienststelle im Zentrum von Tijuana, wo ihn der Mexikaner mit über tausend Aktenordnern allein ließ. Schauen Sie die durch, sagte er. Zwei Stunden später hatte er eine Personenbeschreibung gefunden, die perfekt auf den Chucho passte, den er suchte. Das ist ein kleiner Ganove, sagte Ramírez, als er zurückkam und sich die Akte anschaute. Gelegentlich betätigt er sich als Zuhälter. Wir können ihn heute Abend in der Diskothek Wow treffen, das ist sein Stammlokal, aber vorher gehen wir zusammen essen, sagte Ramírez. Während des Essens auf der Terrasse eines Restaurants erzählte ihm der mexikanische Polizist sein Leben. Ich stamme aus ganz einfachen Verhältnissen, sagte er, und die ersten fünfundzwanzig Jahre waren ein einziger Hindernislauf. Harry Magaña hatte keine große Lust, ihm zuzuhören, ihn interessierte Chucho, aber er tat, als höre er zu. Er konnte die spanischen Worte an sich abperlen lassen, wenn er das wollte, was ihm, sosehr er sich bemühte, mit den englischen nicht gelang. Am Rande bekam er mit, dass Ramírez' Leben wohl wirklich nicht einfach gewesen war. Operationen, Chirurgen, eine arme, an Unglück gewöhnte Mutter. Der schlechte Ruf der Polizei, manchmal zu Recht, manchmal zu Unrecht, das Kreuz, das wir alle zu tragen haben. Ein Kreuz, dachte Harry Magaña. Dann sprach Ramírez von Frauen. Frauen mit gespreizten Beinen. Weit gespreizten Beinen. Was sieht man da? Was sieht man da? Mein Gott, über so was redete man doch nicht beim Essen. Ein verdammtes Loch. Ein verdammtes Auge. Ein verdammter Schlitz wie die Spalte in der Erdkruste drüben in Kalifornien, die San-Bernardino-Spalte, so heißt sie, glaube ich. So was gibt es in Kalifornien? Noch nie davon gehört. Na gut, sagte Harry, ich lebe in Arizona. Weit weg, schon klar, sagte Ramírez. Nein, gleich nebenan, morgen fahre ich zurück nach Hause, sagte Harry. Dann musste er sich einen langen Sermon über Kinder anhören. Hast du einmal genau hingehört, wenn ein Kind weint, Harry? Nein, sagte er, ich habe keine Kinder. Richtig, sagte Ramírez, bitte vielmals um Entschuldigung. Warum bittet er mich um Entschuldigung?, dachte Harry. Eine gute, anständige Frau. Eine Frau, die du, ohne es zu wollen, schlecht behandelst. Aus Gewohnheit. Die Gewohnheit macht uns blind (zumindest auf einem Auge), Harry, und eines Tages liegt diese Frau plötzlich krank in unseren Armen, und es gibt keine Rettung mehr. Diese Frau, die für alle sorgt, außer für sich selbst, verblüht in unseren Armen. Und nicht einmal da wird es uns bewusst, sagte Ramírez. Habe ich ihm von mir erzählt?, fragte sich Harry Magaña. Habe ich die Schamlosigkeit so weit getrieben? Die Dinge sind nicht, was sie scheinen, flüsterte Ramírez. Glaubst du, die Dinge sind, was sie scheinen,

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