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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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er eine Flasche Wein kaufen wollte. Das Mädchen wartete draußen auf ihn. Als er wieder herauskam, fragte sie ihn, ob er einmal Miguels Haus sehen wolle. Harry sagte ja. Der Wagen verließ den Dorfkern von Chucarit. Im Schutz einiger Bäume stand ein windschiefes Lehmziegelhaus. Da wohnt niemand mehr, sagte María del Mar. Harry Magaña stieg aus und sah einen Schweinestall, ein Gehege mit niedergerissenem Zaun und verfaulten Latten, einen Hühnerstall, in dem sich etwas bewegte, eine Ratte oder eine Schlange. Dann stieß er die Tür auf, und ein Dunst von totem Tier schlug ihm ins Gesicht. Er hatte eine Vorahnung. Er kehrte zum Wagen zurück, holte seine Taschenlampe und ging zurück ins Haus. Diesmal kam María del Mar hinter ihm her. Im Wohnraum entdeckte er mehrere tote Vögel. Er richtete die Lampe nach oben, durch die Deckenkonstruktion aus Astwerk konnte man ein Stück Dachboden sehen, wo sich undefinierbare Gegenstände oder natürlicher Wildwuchs ausbreiteten. Der Erste, der fortging, war Miguel, sagte María del Mar in der Dunkelheit. Dann starb seine Mutter, der Vater hielt noch ein Jahr lang allein durch. Meine Mutter meint, er hat sich umgebracht. Mein Vater meint, er sei in den Norden gegangen, um Miguel zu suchen. Hatten sie nicht noch mehr Kinder? Hatten sie, sagte María del Mar, aber die sind gestorben, als sie noch ganz klein waren. Bist du auch ein Einzelkind?, fragte Harry Magaña. Nein, in meiner Familie geschah das Gleiche. Alle meine älteren Geschwister wurden krank und starben, bevor sie sechs Jahre alt waren. Tut mir leid, sagte Harry Magaña. Das andere Zimmer war noch dunkler. Roch aber nicht nach Tod. Eigenartig, dachte Harry. Es roch nach Leben. Vielleicht nach ausgesetztem Leben, nach flüchtigen Besuchen, nach dem Gelächter schlechter Menschen, aber nach Leben. Wieder draußen, zeigte ihm das Mädchen den mit Sternen übersäten Himmel von Chucarit. Hoffst du, dass Miguel eines Tages zurückkommt? Ich hoffe, dass er zurückkommt, aber ich weiß nicht, ob er kommt. Was glaubst du, wo er jetzt ist? Ich weiß nicht, sagte María del Mar. In Santa Teresa? Nein, sagte sie, wenn er dort wäre, wärst du nicht nach Chucarit gekommen, stimmt's? Stimmt, sagte Harry Magaña. Bevor sie fuhren, nahm er ihre Hand und sagte, Miguel Montes habe sie nicht verdient. Das Mädchen lächelte. Sie hatte kleine Zähne. Aber dafür habe ich ihn verdient, sagte sie. Nein, sagte Harry Magaña, du hast etwas viel Besseres verdient. In der Nacht, nachdem er im Haus des Mädchens gegessen hatte, fuhr er zurück nach Norden. Im Morgengrauen erreichte er Tijuana. Das Einzige, was er von Miguel Montes' Freund in Tijuana wusste, war, dass er Chucho hieß. Er überlegte, ob er in den Bars und Diskotheken von Tijuana nach einem Kellner oder Barkeeper dieses Namens fragen sollte, aber so viel Zeit hatte er nicht. Auch kannte er niemanden in der Stadt, der ihm hätte helfen können. Gegen Mittag rief er einen alten Bekannten in Kalifornien an. Ich bin es, Harry Magaña, sagte er. Der Typ am anderen Ende sagte, er könne sich an keinen Harry Magaña erinnern. Vor etwa fünf Jahren haben wir zusammen einen Kurs in Santa Barbara gemacht, sagte Harry Magaña, erinnerst du dich? Verdammt, sagte der andere, na klar, der Sheriff von Huntville, Arizona. Bist du noch Sheriff? Ja, sagte Harry Magaña. Dann erkundigten sie sich nach dem Befinden ihrer jeweiligen Frauen. Der Polizist aus East Los Angeles sagte, seiner gehe es gut, sie werde mit jedem Tag fetter. Harry sagte, seine sei vor vier Jahren gestorben. Wenige Monate nach der Rückkehr von dem Kurs in Santa Barbara. Das tut mir leid, sagte der andere. Ist schon gut, sagte Harry Magaña, und eine Weile lang herrschte ungemütliches Schweigen, bis der Polizist fragte, woran seine Frau gestorben sei. Krebs, sagte Harry, es ging ganz schnell. Bist du in Los Angeles, Harry?, wollte der andere wissen. Nein, nein, in der Nähe, in Tijuana. Und was machst du in Tijuana? Urlaub? Nein, sagte Harry Magaña. Ich suche jemanden. Ich suche ihn auf eigene Rechnung, verstehst du? Aber ich habe nur einen Namen. Soll ich dir helfen?, fragte der Polizist. Ich hätte nichts dagegen, sagte Harry. Von wo rufst du an? Von einer Telefonzelle. Wirf Geld nach und warte ein paar Minuten. Während er wartete, dachte Harry nicht an seine Frau, sondern an Lucy Anne Sander, dann hörte er auf, an Lucy Anne zu denken und beobachtete die Leute, die die Straße entlanggingen, einige mit Mariachi-Hüten

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