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die Frau von der Auskunft. Eine rasche Dämmerung setzte ein, als Harry Magaña in die Calle Portal de San Pablo einbog, die parallel zur Avenida Madero-Centro verlief und in einem Viertel lag, das sich seinen ursprünglichen Charakter bewahrt hatte: Ein- oder zweigeschossige Häuser aus Beton und Ziegelstein, in denen früher junge Beamte und Angestellte der Mittelschicht gewohnt hatten. Jetzt sah man auf den Gehsteigen nur Alte und vorbeihastende Jugendliche, zu Fuß, auf Fahrrädern oder in klapprigen Autos, aber immer in Eile, als hätten sie an diesem Abend sehr dringende Dinge zu erledigen. Dabei bin ich der Einzige, der etwas Wichtiges zu erledigen hat, dachte Harry Magaña und blieb in seinem Wagen unbeweglich sitzen, bis es völlig dunkel war. Er überquerte die Straße, ohne dass ihn jemand sah. Die Tür war aus Holz und schien nicht schwer zu öffnen. Er griff nach seinem Messer, und das Schloss leistete keinen Widerstand. Vom Wohnzimmer ging ein langer Flur ab, der auf einen kleinen Patio führte, dem ein angrenzender Patio Licht spendete. Überall herrschte völliges Durcheinander. Er hörte die dumpfen Laute eines Fernsehers aus einer Nachbarwohnung und ein Schnaufen. Sofort wusste er, dass er nicht allein war. In diesem Moment bereute es Harry Magaña, dass er seine Waffe nicht bei sich hatte. Er schaute in das erste Zimmer. Ein kleiner, aber breitschultriger Typ war dabei, ein großes Bündel unter einem Bett hervorzuziehen. Das Bett war niedrig und das Hervorziehen mühsam. Als er es schließlich geschafft hatte und das Bündel Richtung Flur schleifen wollte, schaute sich der Typ um und sah ihn ohne Verwunderung an. Das Bündel war in Plastik gewickelt, und Harry Magaña spürte, wie Übelkeit und Wut in ihm aufstiegen. Einen Moment lang starrten sich beide regungslos an. Der kleine Gedrungene trug einen schwarzen Overall, vermutlich die Arbeitskleidung irgendeiner Maquiladora, und in seinem Gesicht spiegelten sich Ärger und sogar Scham. Immer bleibt die Drecksarbeit an mir hängen, schien es zu sagen. Schicksalsergeben dachte Harry Magaña, dass er sich eigentlich gar nicht hier, wenige Minuten von der Innenstadt entfernt, im Haus von Francisco Díaz befand, was so viel bedeutete wie in niemandes Haus zu sein, sondern auf dem Land, umgeben von Staub und Gestrüpp, in einer Baracke mit Pferch für die Tiere, Hühnerstall und Holzofen, in der Wüste von Santa Teresa oder sonst wo. Er hörte, wie jemand die Eingangstür schloss, dann Schritte im Wohnzimmer. Eine Stimme, die nach dem breitschultrigen Kerl rief. Er hörte auch, wie dieser antwortete: Ich bin hier, mit unserem Freund. Seine Wut wuchs. Er sehnte sich förmlich danach, ihm das Messer ins Herz zu rammen. Er warf sich auf ihn und erkannte verzweifelt aus dem Augenwinkel die beiden Typen, die er schon im Rand Charger gesehen hatte, durch den Flur kommen.
Das Jahr 1995 wurde am fünften Januar mit dem Fund einer weiteren Toten eingeläutet. Diesmal handelte es sich um ein Skelett, das in geringer Tiefe auf einer zur Gemeinde von Hijos de Morelos gehörigen Viehweide verscharrt lag. Die Bauern, die es ausgruben, wussten nicht, dass es sich um eine Frauenleiche handelte. Sie dachten, es handele sich um einen kleingewachsenen Typen. Am Skelett fanden sich keine Spuren von Kleidern und auch sonst nichts, was der Identifizierung hätte dienen können. Von der Gemeinde aus wurde die Polizei benachrichtigt, die erst sechs Stunden später eintraf und nicht bloß die Aussagen aller am Fund Beteiligten aufnahm, sondern auch wissen wollte, ob ein Bauer vermisst werde, ob es in jüngerer Zeit Streit gegeben, das Verhalten eines der Bauern sich plötzlich verändert habe. Natürlich, zwei junge Leute hatten die Gemeinde verlassen, um nach Santa Teresa, Nogales oder in die USA zu gehen, das passierte jedes Jahr. Streitereien gab es immer, aber nie ernste. Das Verhalten der Bauern änderte sich je nach der Jahreszeit, der Ernte, dem wenigen Vieh, das ihnen blieb, kurz, je nach der wirtschaftlichen Situation, wie bei allen Menschen. Der Gerichtsmediziner stellte rasch fest, dass es sich um das Skelett einer Frau handelte. Wenn man berücksichtigte, dass sich keine Kleider oder Kleiderreste bei der Toten fanden, lag der Schluss nahe, dass es sich um Mord handelte. Wie war sie ermordet worden? Das ließ sich nicht mehr sagen. Wann? Wahrscheinlich vor rund drei Monaten, obwohl er in diesem Punkt keine genaue Aussage wagen wollte, da die Verwesung einer Leiche
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