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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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jüngeren Schwester, eine Wohnung teilte. Beide waren im Viertel bekannt für ihr freundliches, aufrechtes Wesen und ihre offene Art. Ihre Eltern waren vor fünf Jahren gestorben, zuerst der Vater an Krebs, dann die Mutter an einem Herzinfarkt, im Abstand von kaum zwei Monaten, und Olga hatte sich tatkräftig und wie selbstverständlich des gemeinsamen Haushalts angenommen. Von einem festen Freund war bei ihr nichts bekannt. Ihre zwanzigjährige Schwester dagegen hatte einen Freund, den sie zu heiraten gedachte. Dieser Verlobte, ein junger Anwalt frisch von der Universität, arbeitete in einer auf Wirtschaftsrecht spezialisierten Kanzlei, die in der Stadt einen guten Ruf genoss, außerdem besaß er für den Abend von Olgas mutmaßlicher Entführung ein Alibi. Bei seiner (informellen) Vernehmung zeigte er sich erschüttert über den Tod seiner künftigen Schwägerin und bekannte, nicht die leiseste Ahnung zu haben, wer Olga so hassen konnte, dass er sogar bereit war, sie zu ermorden, und zeigte sich betroffen von dem Unglück, dem tragischen Schicksal, das, wie er sagte, auf der Familie seiner Verlobten laste, erst der Tod der Eltern und jetzt der ihrer Schwester. Die wenigen Freunde von Olga bestätigten die Aussagen von Elisa und dem jungen Anwalt. Sie war bei allen beliebt, eine Santatereserin, wie es sie kaum noch gab, gradlinig, ehrlich, anständig und verlässlich. Die sich außerdem elegant und geschmackvoll zu kleiden wusste. Der Ansicht war auch der Gerichtsmediziner, der übrigens eine seltsame Entdeckung an der Leiche machte: Der Rock, den sie am Abend ihres Todes trug und in dem sie gefunden wurde, war verkehrt herum angezogen.
    Im Mai erschien der US-amerikanische Konsul beim Bürgermeister von Santa Teresa, und gemeinsam statteten sie dem Polizeichef der Stadt einen inoffiziellen Besuch ab. Der Konsul hieß Abraham Mitchell, aber seine Frau und seine Freunde nannten ihn Conan. Er war ein Kerl von einem Meter neunzig, hundertfünf Kilo schwer, hatte ein zerfurchtes Gesicht und vielleicht etwas groß geratene Ohren, außerdem war er begeistert vom Leben in Mexiko und von Campingtouren in der Wüste, und persönlich kümmerte er sich nur um die schweren Fälle. Das heißt, er hatte kaum etwas zu tun, außer sein Land bei festlichen Anlässen zu vertreten und einmal alle zwei Monate heimlich und in Begleitung unerschrocken dem Alkohol Paroli bietender Landsleute die beiden reputierlichsten Peluquerías von Santa Teresa aufzusuchen. Der Sheriff von Huntville war verschwunden, und nach allen Informationen, die er besaß, war er das letzte Mal in Santa Teresa gesehen worden. Der Polizeichef erkundigte sich, ob er in offizieller Mission oder als Tourist in Santa Teresa gewesen sei. Als Tourist natürlich, sagte der Konsul. In diesem Fall wüsste ich nicht, wie ich Ihnen weiterhelfen kann, sagte Pedro Negrete, hier kommen jeden Tag Hunderte von Touristen durch. Der Konsul dachte einen Moment nach und gab dem Polizeichef dann recht. Besser keine Scheiße aufwühlen, dachte er. Dennoch kam ihm der Bürgermeister, der sein Freund war, so weit entgegen, dass man ihm oder einer Person, die er für geeignet hielt, erlaubte, die Fotos aller zwischen November 1994 und heute in Santa Teresa tot aufgefundenen Unbekannten durchzusehen, von denen aber Rory Campuzano, rechte Hand des Sheriffs und eigens zu diesem Zweck angereist, niemanden identifizieren konnte. Wahrscheinlich ist der Sheriff wahnsinnig geworden, sagte Kurt A. Banks, und hat sich in der Wüste umgebracht. Oder er lebt jetzt in Florida mit einem Transvestiten zusammen, sagte Henderson, der andere Konsulatsmitarbeiter. Conan Mitchell machte ein ernstes Gesicht und sagte, so rede man nicht über einen Sheriff der Vereinigten Staaten, das sei gottlos. Ansonsten wurde im Mai in Santa Teresa keine weitere Frau ermordet, ebenso wenig im Juni. Im Juli gab es wieder zwei Tote und erste Proteste der Organisation FRAUEN VON SONORA FÜR DEMOKRATIE UND FRIEDEN (FSDF), deren Geschäftsstelle sich in Hermosillo befand und die in Santa Teresa nur drei Mitglieder besaß. Die erste Tote tauchte im Hof einer Autowerkstatt am Ende der Calle Refugio auf, kurz vor der Hauptstraße nach Nogales. Die neunzehnjährige Frau war vergewaltigt und erwürgt worden. Ihre Leiche fand man im Innern eines Wagens, der zur Verschrottung bereitstand. Sie trug Jeans, eine weiße, leicht ausgeschnittene Bluse und Cowboystiefel. Drei Tage später wusste man, dass es sich um Paula García Zapatero

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