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mit ihnen befreundet? Und wenn sie nicht mit ihnen befreundet war, wer hatte ihr diese Nummern besorgt? Mysteriös. Ich hätte etwas tun können. Einen von den Typen anrufen und Geld von ihm verlangen. Aber Geld macht mich nicht an. Also habe ich das Büchlein behalten und nichts unternommen.
In den ersten Septembertagen tauchte die Leiche einer Unbekannten auf, die später als die siebzehnjährige Marisa Hernández Silva identifiziert werden sollte, verschwunden Anfang Juli auf dem Weg zur Vasconcelos-Oberschule in der Siedlung Reforma. Laut Obduktionsbericht war sie vergewaltigt und erwürgt worden. Eine der Brüste hatte man fast vollständig abgeschnitten, an der anderen fehlte die Brustwarze, sie war ihr abgebissen worden. Ihr Körper lag am Eingang einer wilden Müllkippe namens El Chile. Der Anruf, durch den die Polizei verständigt wurde, kam von einer Frau, die einen Kühlschrank auf den Müll werfen wollte, um die Mittagszeit, dann, wenn auf der Müllkippe keine Obdachlosen herumlungerten, nur hin und wieder Rotten von Kindern oder Hunden. Marisa Hernández Silva lag zwischen zwei großen, mit Kunstfaserresten gefüllten Plastiksäcken. Sie trug dieselben Sachen wie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens: Jeans, gelbe Bluse und Turnschuhe. Der Bürgermeister ordnete die Schließung der Müllkippe an, aber nachdem sein Sekretär ihn von der juristischen Unmöglichkeit überzeugt hatte, etwas zu schließen, das im Sinne des Gesetzes nie eröffnet worden war, änderte er den Schließungsbefehl ab in den Befehl zur Auflösung, Abtragung und Zerstörung der verpesteten Halde, wo sämtliche Regeln des Gemeinwesens mit Füßen getreten würden. Eine Woche lang wurde eine Polizeipatrouille an der Umgrenzung von El Chile postiert, und drei Tage lang transportierten Müllfahrzeuge mit Unterstützung der beiden einzigen städtischen Kipplaster die Abfälle zur Deponie in der Siedlung Kino, doch angesichts der Ausmaße des Unterfangens und der geringen Kräfte, es zu bewältigen, gaben sie bald auf.
Zu jener Zeit hatte Sergio González, der Journalist aus DF, seine Position in der Kulturabteilung seiner Zeitung gefestigt und bezog ein höheres Gehalt, mit dem er den monatlichen Unterhalt für seine Exfrau bestreiten konnte und noch genug übrig behielt, um bequem davon zu leben, er hatte sogar eine Geliebte, eine Journalistin aus dem Auslandsressort, mit der er ab und zu ins Bett ging, mit der er sich aber, weil ihre Charaktere so verschieden waren, nicht unterhalten konnte. Er hatte die Zeit nicht vergessen - obwohl er sich die Zähigkeit seiner Erinnerung nicht recht erklären konnte -, die er in Santa Teresa verbracht hatte, ebenso wenig die Frauenmorde oder den Priestermörder mit dem Spitznamen Der Büßer, der auf ebenso geheimnisvolle Weise verschwand, wie er aufgetaucht war. Manchmal, dachte er, war man als Kulturjournalist in Mexiko nichts anderes als ein Kriminalreporter. Und die Arbeit als Sensationsreporter unterschied sich nicht von der für den Kulturteil, obwohl in den Augen der Kriminalreporter alle Kulturjournalisten Schwuchteln waren (»Coolturjournalisten« nannten sie sie), Kulturjournalisten wiederum in allen Sensationsreportern hoffnungslose Verlierer sahen. An manchen Abenden ging er nach der Arbeit mit einigen älteren Kriminalreportern einen trinken, in deren Ressort übrigens der Anteil älterer Journalisten am höchsten war, dahinter folgten mit deutlichem Abstand die Ressorts für Innenpolitik und Sport. Meistens landeten sie am Ende in einer Nuttenbar in der Siedlung Guerrero, in deren riesigem Hinterzimmer eine über zwei Meter hohe, alles beherrschende Aphroditenstatue aus Gips stand, wahrscheinlich ein Lokal, dachte er, das in den Zeiten von Tin-Tan den Ruhm einer gewissen Zügellosigkeit genossen und seither einen permanenten Niedergang erlebt hatte, einen unaufhaltsamen mexikanischen Niedergang, also einen gelegentlich von einem gedämpften Lachen, einem gedämpften Schuss, einem gedämpften Stöhnen skandierten Niedergang. Ein mexikanischer Niedergang? Eigentlich ein lateinamerikanischer Abstieg. Die Kriminalreporter kamen gern zum Trinken dorthin, nur selten gingen sie mit einer Nutte ins Bett. Sie plauderten über alte Fälle, erinnerten sich an Geschichten von Korruption, Erpressung und Blutvergießen, grüßten Polizisten, die sich ebenfalls hier blicken ließen, tuschelten mit ihnen und nannten das Informationsaustausch, aber selten zogen sie mit einer Nutte ab. Anfangs folgte
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