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Jacke. Sie war sehr dünn. Sie war etliche Male vergewaltigt und mit einem Messer verletzt worden. Todesursache war ein gebrochenes Zungenbein. Was die Journalisten am meisten überraschte, war aber die Tatsache, dass niemand den Leichnam beanspruchte oder identifizieren konnte. Als wäre das Mädchen allein nach Santa Teresa gekommen und hätte dort im Verborgenen gelebt, bis der oder die Mörder auf sie aufmerksam wurden und sie umbrachten.
Während die Verbrechen weitergingen, setzte Epifanio die Ermittlungen im Fall der ermordeten Estrella Ruiz Sandoval alleine fort. Er sprach mit den Eltern und den Geschwistern, die noch zu Hause wohnten. Keiner wusste etwas. Er sprach mit einer älteren Schwester, die verheiratet war und jetzt in der Calle Esperanza in der Siedlung Lamas del Taro wohnte. Er sah sich Fotos von Estrella an. Sie war ein hübsches Mädchen gewesen, groß, mit schönem Haar und angenehmen Gesichtszügen. Die Schwester nannte ihm die Namen zweier Freundinnen in der Maquiladora, in der sie gearbeitet hatte. Er wartete am Ausgang auf sie. Ihm fiel auf, dass er der einzige Erwachsene unter den Wartenden war, alle anderen waren Kinder, einige von ihnen noch mit Schulbüchern. Neben den Kindern stand ein Typ mit einem grünen Wägelchen und verkaufte Eis am Stil. Über dem Wägelchen spannte sich eine weiße Plane. Er pfiff den Kindern hinterher, als wollte er sie verscheuchen, und verkaufte ihnen Eis am Stiel, allen, nur einem nicht, das kaum drei Monate alt war und im Arm seiner sechsjährigen Schwester lag. Die Freundinnen von Estrella hießen Rosa Márquez und Rosa María Medina. Er fragte die herauskommenden Arbeiterinnen nach ihnen, und eine zeigte ihm Rosa Márquez. Er sagte ihr, er sei Polizist und sie solle noch Estrellas andere Freundin holen. Zu Fuß verließen die drei den Industriepark. Während sie von Estrella erzählten, fing die eine, die Rosa María Medina hieß, an zu weinen. Alle drei liebten Filme, und an den Sonntagen, nicht an allen, gingen sie in die Innenstadt und besuchten die Doppelvorstellung im Kino Rex. Bei anderen Gelegenheiten schauten sie sich nur Geschäfte an, vor allem Schaufenster von Modeboutiquen, oder sie gingen in ein Einkaufszentrum in der Siedlung Centeno. Dort spielten sonntags Musikgruppen, und es kostete keinen Eintritt. Er fragte sie, ob Estrella Pläne für die Zukunft gehabt habe. Natürlich habe sie das, sie wollte eine Ausbildung machen, nicht ihr ganzes Leben in der Maquiladora arbeiten. Und was für eine Ausbildung? Sie wollte lernen, mit Computern umzugehen, sagte Rosa María Medina. Dann fragte Epifanio, ob sie auch einen Beruf erlernen wollten, und sie antworteten, ja, obwohl das nicht leicht sei. Ging sie nur mit euch aus oder hatte sie noch andere Freundinnen?, wollte er wissen. Wir waren ihre besten Freundinnen, sagten sie. Einen Freund hatte sie nicht. Einmal hatte sie einen. Aber das ist lange her. Sie hätten ihn nie kennengelernt. Als er sie fragte, wie alt Estrella gewesen sei, als das mit dem Freund war, dachten die beiden Mädchen kurz nach und antworteten, mindestens zwölf. Und wie kommt es, dass ein so hübsches Mädchen keine Verehrer hatte? Die Freundinnen lachten und sagten, es habe viele gegeben, die gern mit Estrella gegangen wären, aber sie wollte nicht ihre Zeit vergeuden. Wozu ein Mann, wo wir selbst arbeiten und unser Geld verdienen und unabhängig sind?, fragte Rosa Márquez. Stimmt schon, sagte Epifanio, das denke ich auch, obwohl es, vor allem, wenn man jung ist, nicht schlecht ist, auszugehen und sich zu amüsieren, manchmal braucht man das. Amüsiert haben wir uns schon alleine, sagten die Mädchen, und gefehlt hat uns nie etwas. Bevor sie bei einem der Mädchen zu Hause ankamen, bat er sie, auch wenn es vielleicht zwecklos war, ihm die Typen zu beschreiben, die gern mit Estrella gegangen oder befreundet gewesen wären. Sie blieben auf der Straße stehen, und Epifanio notierte sich fünf Vornamen ohne Nachnamen, allesamt Arbeiter in derselben Maquiladora. Anschließend begleitete er Rosa María Medina noch ein paar Straßen weiter. Ich glaube nicht, dass es einer von denen war, sagte das Mädchen. Warum glaubst du das nicht? Weil sie aussehen wie anständige Leute, sagte das Mädchen. Ich werde mit ihnen sprechen, sagte Epifanio, und wenn es so ist, werde ich es dir sagen. Nach drei Tagen hatte er die fünf Männer seiner Liste ausfindig gemacht. Keiner von ihnen hatte ein Verbrechergesicht. Einer war verheiratet, aber in
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