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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Schwestern, ein Mann sprang heraus und zerrte Estefanía in den Wagen, stieg wieder aus und stieß Herminia hinterher, dann fuhr der Wagen davon. Die beiden jüngeren Geschwister standen wie gelähmt auf dem Gehweg, dann machten sie kehrt und gingen nach Hause, wo niemand war, weshalb sie bei den Nachbarn klingelten und erzählten, was passiert war, und schließlich doch zu weinen begannen. Die Frau, die ihnen aufgemacht hatte, Arbeiterin in der Maquiladora Horizon W&E, benachrichtigte ihrerseits eine Nachbarin und rief dann bei der Maquiladora MachenCorp an, um die Eltern der Mädchen ausfindig zu machen. Bei MachenCorp teilte man ihnen mit, private Telefongespräche seien verboten, und legte auf. Die Frau rief noch einmal an und nannte Namen und Posten des Vaters, weil sie dachte, die Mutter, Arbeiterin wie sie selbst, werde sicher als rangniedriger eingestuft, also als jederzeit kündbar, mit Grund oder ohne Grund oder aus irgendeiner Laune heraus, und diesmal ließ die Telefonistin sie so lange warten, dass ihr die Münzen ausgingen und die Verbindung unterbrochen wurde. Sie hatte kein Geld mehr. Verzweifelt kehrte die Frau nach Hause zurück, wo die Nachbarin und die Mädchen auf sie warteten, und in den folgenden Stunden erfuhren die vier, was es heißen konnte, im Fegefeuer zu sitzen, ein langes hilfloses Warten, ein Warten, dessen Rückgrat die Ohnmacht war, übrigens etwas sehr Lateinamerikanisches, etwas, das man genau genommen jeden Tag erlebte, wenn auch ohne diese Angst, ohne dass der Schatten des Todes wie ein Schwarm Geier über dem Viertel kreiste und alles lähmte, alle gewohnten Abläufe über den Haufen warf und alles auf den Kopf stellte. Während sie also auf den Vater der Mädchen warteten, dachte die Nachbarin (um die Zeit und die Angst totzuschlagen), dass sie gern einen Revolver haben und auf die Straße laufen würde. Und was dann? Dann würde sie ein paar Schüsse in die Luft abgeben, um sich abzureagieren und Viva Mexiko zu schreien, um sich Mut zu machen oder um eine letzte Wärme zu spüren und dann in rücksichtsloser Geschwindigkeit mit den Händen ein Loch in die festgestampfte Lehmstraße zu graben und sich, durchweicht bis auf die Knochen, darin für immer und ewig zu begraben. Als endlich der Vater kam, gingen alle gemeinsam zum nächsten Kommissariat. Nachdem sie in groben Zügen (oder kopflos) ihr Problem dargelegt hatten, ließ man sie über eine Stunde warten, bis zwei Kommissare eintrafen. Diese stellten ihnen noch einmal die gleichen Fragen und ein paar zusätzliche, vor allem zu dem Wagen, in dem Estefanía und Herminia entführt worden waren. Nach einer Weile standen in dem Büro, in dem man die beiden Mädchen befragte, vier Kommissare. Einer von ihnen, der einen sympathischen Eindruck machte, bat die Nachbarin, ihn zu begleiten, und führte die Mädchen in die Garage des Kommissariats, wo er sie fragte, welches von den dort parkenden Fahrzeugen am meisten dem Auto gleiche, das ihre Schwestern mitgenommen habe. Anschließend sagte er, man müsse aufgrund der Angaben der Mädchen nach einem schwarzen Peregrino oder Arquero suchen. Um fünf Uhr nachmittags erschien die Mutter auf dem Kommissariat. Eine der Nachbarinnen war bereits gegangen, die andere heulte ununterbrochen und hielt die Jüngste im Arm. Um acht Uhr abends traf Ortiz Rebolledo ein und stellte zwei Einsatzgruppen zusammen, eine unter Leitung von Juan de Dios Martínez und Lino Rivera, die die Freunde und Verwandten der Mädchen unter die Lupe nehmen, und eine zweite, die mit Unterstützung der städtischen Polizei das mutmaßliche Entführungsfahrzeug, den Peregrino, Arquero oder Lincoln, ausfindig machen sollte und von Ángel Fernandez und Efraín Bustelo koordiniert wurde. Juan de Dios Martínez übte offen Kritik an dieser Vorgehensweise, da seines Erachtens beide Gruppen ihre Kräfte für das Auffinden des Entführungsfahrzeugs bündeln sollten. Sein Hauptargument lautete, dass kaum jemand, um nicht zu sagen niemand, von den Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen der Familie Noriega so etwas wie einen schwarzen Peregrino oder Chevy Astra besaß, sondern dass tatsächlich alle der nicht motorisierten Klasse angehörten, einige sogar so arm waren, dass sie für den Weg zur Arbeit nicht einmal den Bus nahmen, sondern zu Fuß gingen, um Kleingeld zu sparen. Die Antwort von Ortiz Rebolledo war schlagend: Jeder konnte einen Peregrino klauen, jeder konnte einen Arquero oder Bocho oder Jetta klauen, dazu

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