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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Kamera zu bitten, doch nach Hause zurückzukommen. Eine Zeitlang prangte sogar ein Foto von Irene in Passbildgröße mit Adresse und Telefonnummer auf Milchpackungen. Kein Polizist in Santa Teresa hatte das Foto je gesehen. Kein Polizist in Santa Teresa trank Milch. Ausgenommen Lalo Cura.

Die drei Gerichtsmediziner von Santa Teresa waren sich nicht sehr ähnlich. Der älteste von ihnen, Emilio Garibay, war dick und groß und litt an Asthma. Manchmal bekam er seine Anfälle, wenn er gerade eine Leiche obduzierte, und dann riss er sich zusammen. War Doña Isabel, eine Pflegerin, zugegen, holte sie aus seinem Sakko, das am Haken hing, den Inhalator, und Garibay sperrte den Mund auf wie ein junger Vogel und empfing den Sprühstoß. Aber wenn er allein war, riss er sich zusammen und setzte die Arbeit fort. Er war in Santa Teresa geboren, und alles deutete darauf hin, dass er auch dort sterben würde. Seine Familie gehörte zur gehobenen Mittelklasse, zur grundbesitzenden Klasse, von denen viele zu Geld gekommen waren, indem sie Ödland an die Maquiladoras verkauften, die sich in den Achtzigern diesseits der Grenze anzusiedeln begannen. Emilio Garibay aber hatte keine Geschäfte gemacht. Oder fast keine. Er war Professor an der medizinischen Fakultät, und als Gerichtsmediziner fehlte es ihm unglücklicherweise nie an Arbeit, weshalb er keine Zeit für andere Dinge wie zum Beispiel Geschäfte fand. Er war Atheist und hatte seit Jahren kein Buch mehr gelesen, obwohl er in seinem Haus eine ganz ansehnliche Bibliothek zu seinem Fachgebiet beherbergte, in der sich darüber hinaus einige philosophische Werke, Bücher über mexikanische Geschichte und der eine oder andere Roman fanden. Manchmal glaubte er, dass er nicht mehr las, weil er Atheist war. Nicht zu lesen war sozusagen die höchste Stufe des Atheismus oder zumindest des Atheismus, wie er ihn verstand. Wenn du schon nicht an Gott glaubst, wie dann an ein verdammtes Buch?, dachte er.
    Der zweite Gerichtsmediziner hieß Juan Arredondo und stammte aus Hermosillo, der Hauptstadt des Bundesstaates Sonora. Sein Medizinstudium hatte er anders als Emilio Garibay, der an der UNAM studiert hatte, in Hermosillo an der dortigen Universität absolviert. Er war fünfundvierzig, verheiratet mit einer Frau aus Santa Teresa, mit der er drei Kinder hatte, und seine politischen Sympathien gehörten der Linken, dem PRO, ohne dass er je Mitglied dieser Partei gewesen wäre. Wie Garibay teilte er sich auf zwischen der Arbeit als Gerichtsmediziner und der Lehrtätigkeit als Pathologe an der Universität von Santa Teresa, wo er von seinen Studenten geschätzt wurde, die mehr einen Freund als einen Professor in ihm sahen. Seine Lieblingsbeschäftigungen waren Fernsehen und Essen mit der ganzen Familie, nur wenn Einladungen zu Kongressen im Ausland lockten, geriet er aus dem Häuschen und versuchte mit allen Mitteln, eine für sich zu ergattern. Der Dekan, ein Freund von Garibay, verachtete ihn, und hin und wieder gab er aus purer Verachtung ihm den Zuschlag. Auf diese Weise reiste Arredondo dreimal in die USA, einmal nach Spanien und einmal nach Costa Rica. In einem Fall vertrat er das Gerichtsmedizinische Institut und die Universität von Santa Teresa bei einem Symposium in Medellín, Kolumbien, und wirkte bei seiner Rückkehr wie ausgewechselt. Wir machen uns keine Vorstellung, was da vor sich geht, sagte er zu seiner Frau und sprach nie wieder von der Sache.
    Der dritte Gerichtsmediziner hieß Rigoberto Frías und war zweiunddreißig. Er stammte aus Irapuato und hatte eine Zeitlang in DF gearbeitet, aber urplötzlich und ohne jede Erklärung war er von dort fortgegangen. Seit zwei Jahren arbeitete er in Santa Teresa, wo er auf Empfehlung eines Kommilitonen von Garibay unterkam, und nach Meinung seiner Kollegen war er penibel und tüchtig. Er arbeitete als Hochschulassistent an der medizinischen Fakultät und lebte allein in einer ruhigen Straße in der Siedlung Serafín Garabito. Seine Wohnung war klein, aber geschmackvoll eingerichtet. Er besaß viele Bücher und fast keine Freunde. Mit seinen Studenten wechselte er außerhalb der Lehrveranstaltungen kaum ein Wort, und am gesellschaftlichen Leben, zumindest dem des Lehrkörpers, nahm er nicht teil. Manchmal gingen die drei Gerichtsmediziner auf Anordnung von Garibay im Morgengrauen zusammen frühstücken. Um diese Zeit blieb dafür nur eine Cafeteria im US-amerikanischen Stil, die vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte und in der sich die

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