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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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genannt werde. Ein Schwarm Frauen traf ein, einige zu Fuß, andere stiegen aus Bussen, die von den umliegenden Maquiladoras bereitgestellt wurden. Sind die Busse umsonst?, fragte Sergio zerstreut. Hier ist nichts umsonst, sagte die Frau. Dann fragte er, wer Florita Almada sei. Eine alte Frau, die ab und zu im Fernsehen von Hermosillo auftritt, in der Show von Reinaldo. Sie weiß, wer hinter den Verbrechen steckt, und hat uns gewarnt, aber wir haben nicht auf sie gehört. Keiner hat auf sie gehört. Sie hat die Gesichter der Mörder gesehen. Wenn Sie mehr wissen wollen, gehen Sie zu ihr, und wenn Sie sie getroffen haben, rufen Sie mich an oder schreiben Sie mir. Das werde ich tun, sagte Sergio. Mit Vorliebe setzte sich Haas mit dem Rücken zur Wand im schattigen Teil des Hofes auf den Boden. Und mit Vorliebe dachte er nach. Mit Vorliebe darüber, dass es keinen Gott gab. Drei Minuten, mindestens. Mit Vorliebe auch darüber, wie unbedeutend die Menschen waren. Fünf Minuten. Wenn es den Schmerz nicht gäbe, wir wären vollkommen. Unbedeutend und frei von Schmerz. Vollkommen, Himmelarsch. Aber der Schmerz war da und versaute alles. Schließlich dachte er an den Luxus. Den Luxus, ein Gedächtnis zu haben, eine oder mehrere Sprachen zu sprechen, zu denken und nicht auf und davon zu laufen. Dann öffnete er die Augen und betrachtete wie aus einem Traum heraus einige von den Bisons, die sich im anderen, im sonnigen Teil des Hofs ergingen, als würden sie grasen. Die Bisons grasen im Gefängnishof, dachte er, und der Gedanke beruhigte ihn wie ein schnellwirkendes Schmerzmittel, denn gelegentlich, nicht oft, begann der Tag für Haas, als hätte ihm jemand eine Messerspitze ins Hirn gebohrt. Tequila und Tormenta waren bei ihm. Manchmal fühlte er sich wie ein sogar von den Steinen unverstandener Hirte. Einige Häftlinge schienen sich in Zeitlupe zu bewegen. Zum Beispiel der Getränkeverkäufer, der ihnen gerade drei Flaschen kalter Cola brachte. Oder dort drüben die Basketballspieler. Letzte Nacht vorm Schlafengehen war ein Wächter zu ihm gekommen und hatte gesagt, er solle mitkommen, Enrique Hernández wolle ihn sehen. Der Drogenboss war nicht allein. Neben ihm saßen der Gefängnisdirektor und ein Typ, der sich als Enriques Anwalt entpuppte. Sie hatten gerade gegessen, und Enrique bot ihm Kaffee an, den Haas ablehnte, weil er dann nicht schlafen könne. Alle lachten, außer dem Anwalt, der nichts gehört zu haben schien. Du gefällst mir, Gringo, sagte der Drogenboss, ich wollte nur, dass du weißt, dass die Sache mit den Bisons untersucht wird. Alles klar? Sonnenklar, Don Enrique. Dann forderten sie ihn auf, Platz zu nehmen, und erkundigten sich nach dem Leben im Gefängnis. Am nächsten Tag sagte er zu Tequila, Enrique habe die Sache in die Hand genommen. Sag das deinem Brüderchen. Tequila nickte und sagte: Wie schön. Wie lieblich es ist, hier zu sein, an diesem schattigen Fleckchen, sagte Haas.
    Nach Auskunft der Leiterin der Abteilung für Sexualdelikte von Santa Teresa, einer erst seit sechs Monaten bestehenden Regierungsstelle, betrug bei Mordopfern das Verhältnis von Männern zu Frauen landesweit zehn zu eins, in Santa Teresa dagegen vier zu zehn. Leiterin der Abteilung war Yolanda Palacio, eine Frau von Anfang dreißig mit heller Haut und kastanienbraunem Haar, die immer etwas förmlich wirkte, obwohl unter ihrer Förmlichkeit die Sehnsucht nach Glück durchschimmerte, die Sehnsucht nach dem nie endenden Fest. Aber was wäre das nie endende Fest?, fragte sich Sergio González. Vielleicht das, was einige wenige von uns anderen unterscheidet, die wir in trister Alltäglichkeit dahinleben. Lust zu leben, Lust, den Kampf aufzunehmen, wie sein Vater immer sagte, aber was denn bekämpfen? Das Unausweichliche? Kämpfen gegen wen? Und um was zu erreichen? Mehr Zeit, eine Gewissheit, eine Ahnung von etwas Wesentlichem. Als wenn es etwas Wesentliches gäbe in diesem beschissenen Land, auf diesem beschissenen, verwichsten Planeten, dachte er. Yolanda Palacio hatte an der Universität von Santa Teresa Jura studiert und sich später an der Universität von Hermosillo auf Strafrecht spezialisiert, konnte aber, wie sie zu spät merkte, Gerichte nicht ausstehen und wollte auch keine Zivilprozesse führen, weshalb sie sich der Wissenschaft zuwandte. Wissen Sie, wie viele Frauen in Santa Teresa Sexualdelikten zum Opfer fallen? Über zweitausend jedes Jahr. Und fast die Hälfte ist minderjährig. Und vermutlich ist die

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