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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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aber selten träumte er von einem. Er träumte überhaupt wenig oder hatte das Glück, seine Träume schlagartig zu vergessen, wenn er erwachte. Seine Frau, mit der er seit über dreißig Jahren verheiratet war, erinnerte sich meist an ihre Träume, und manchmal, wenn Albert Kessler gerade zu Hause war, erzählte sie sie ihm beim gemeinsamen Frühstück. Sie stellten das Radio an, einen Sender mit klassischer Musik, und frühstückten mit Kaffee, Orangensaft und tiefgefrorenem Brot, das seine Frau in die Mikrowelle tat, wo es köstlich knusprig wurde, besser als jedes Brot, das er irgendwo anders gegessen hatte. Und während sie sich Butter aufs Brot strich, erzählte seine Frau ihm die Träume der vergangenen Nacht, die meistens von Verwandten handelten, meistens von toten, oder von gemeinsamen Freunden, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatten. Anschließend schloss seine Frau sich im Bad ein, und Albert Kessler ging hinaus in den Garten und beobachtete den Horizont aus roten, grauen, gelben Dächern, die sauberen und akkuraten Gehwege, die allerneusten Fahrzeugtypen, die die jüngeren Kinder ihrer Nachbarn auf den Kieswegen statt in der Garage parkten. Im Viertel wusste man, wer er war, und achtete ihn. War er im Garten und ein Mann erschien, der ins Auto steigen und davonfahren wollte, so hob er vorher die Hand und sagte: Guten Tag, Herr Kessler. Alle waren jünger als er. Nicht übermäßig jung, Ärzte oder mittlere Angestellte, Fachleute, die sich ihr Brot hart erarbeiteten und niemandem übelwollten, obwohl sich über den letzten Punkt nichts mit Bestimmtheit sagen ließ. Fast alle waren verheiratet und hatten ein oder zwei Kinder. Ab und zu veranstalteten sie ein Barbecue im Garten neben dem Swimmingpool, und weil seine Frau ihn darum gebeten hatte, war er einmal einer dieser Einladungen gefolgt, hatte ein halbes Bud und ein Glas Whisky getrunken. Im Viertel wohnte kein einziger Polizist, und der Einzige, der etwas heller schien, war ein Universitätsprofessor, kahl und ein langer Lulatsch, doch entpuppte er sich als Idiot, der bloß über Sport reden konnte. Ein Polizist oder Expolizist, dachte er manchmal, kommt am besten mit einer Frau oder einem anderen Polizisten klar, einem anderen Bullen gleichen Dienstgrads. In seinem Fall stimmte nur der zweite Teil. Frauen interessierten ihn schon lange nicht mehr, außer sie waren Polizisten und arbeiteten an der Aufklärung von Mordfällen. Einmal hatte ihm ein japanischer Kollege geraten, sich in seiner Freizeit mit Gartenarbeit zu beschäftigen. Der Typ war ein pensionierter Bulle wie er, und es gab eine Zeit, so wurde behauptet, da war er der Star der Kriminalpolizei von Osaka. Er beherzigte seinen Rat, und wieder zu Hause, sagte er seiner Frau, sie solle den Gärtner entlassen, er werde sich in Zukunft persönlich um den Garten kümmern. Natürlich hatte er ihn in kürzester Zeit zugrunde gerichtet, und der Gärtner kam wieder. Warum wollte ich mich, und ausgerechnet durch Gartenarbeit, von einem Stress erholen, den ich nicht habe?, fragte er sich. Manchmal, nach der Rückkehr von einer zwanzig- oder dreißigtägigen Rundreise, auf der er für sein Buch geworben, Krimiautoren oder Filmregisseure beraten, Universitäten oder eine Polizeidienststelle besucht hatte, die in einer ungelösten Mordsache nicht weiterkam, betrachtete er seine Frau und hatte das vage Gefühl, sie nicht zu kennen. Aber er kannte sie, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Vielleicht war es ihre Art, zu gehen oder sich durchs Haus zu bewegen, oder ihre Art, ihn aufzufordern, nachmittags, wenn es bereits dunkel wurde, mit ihr zum Supermarkt zu gehen, wo sie immer das tiefgefrorene Brot kaufte, das er morgens aß und das schmeckte wie frisch aus einem europäischen Ofen, nicht wie aus einer Mikrowelle in den Vereinigten Staaten. Manchmal, wenn sie ihre Einkäufe erledigt hatten, blieben sie, jeder mit seinem Wägelchen, vor einer Buchhandlung stehen, in der die Taschenbuchausgabe seines Buches lag. Seine Frau zeigte mit dem Finger darauf und sagte: Du bist noch da. Er nickte jedes Mal mit dem Kopf, und dann bummelten sie weiter durch die Läden der Mall. Kannte er sie, oder kannte er sie nicht? Klar kannte er sie, nur dass eben manchmal die Wirklichkeit, die gleiche winzig kleine Wirklichkeit, die der Wirklichkeit als Anker diente, unscharf zu werden schien, als würde die Zeit eine erosive Wirkung auf die Dinge ausüben und das undeutlich und leichter machen, was bereits von

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