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lang sahen die Journalisten sich fragend an, ob der Name irgendeinem etwas sagte, aber alle zuckten die Schultern. Antonio Uribe, sagte Haas, ist der Name des Frauenmörders von Santa Teresa. Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: Und Umgebung. Und Umgebung?, fragte einer der Journalisten. Der Mörder von Santa Teresa, sagte Haas, und der in der Umgebung der Stadt gefundenen toten Frauen. Und du kennst diesen Uribe?, fragte einer der Journalisten. Ich habe ihn einmal gesehen, ein einziges Mal, sagte Haas. Dann holte er tief Luft, als würde er zu einer langen Geschichte ausholen, und Chuy Pimentel nutzte die Gelegenheit zu einem Foto. Darauf wirkte Haas durch Licht und Körperhaltung noch dünner, sein Hals noch länger, wie der Hals eines Truthahns, aber nicht wie irgendein Truthahn, sondern wie ein singender Truthahn oder einer, der sich eben anschickt, seine Stimme zu erheben, nicht einfach zu singen, sondern seine Stimme zu erheben, zu einem schrillen, knirschenden Gesang, einem Gesang wie gemahlenes Glas, aber mit einem starken Anklang an Kristall, also an Reinheit, an Hingabe, an das völlige Fehlen von Falschheit.
Am siebten Oktober wurde dreißig Meter neben den Bahnschienen, in den Büschen am Rand eines Baseballplatzes, die Leiche einer vierzehn bis sechzehn Jahre alten Frau gefunden. Ihr Körper zeigte deutliche Spuren von Folter, etliche Hämatome an Armen, Oberkörper und Beinen sowie zahlreiche Stichverletzungen (ein Polizist machte sich den Spaß, sie zu zählen, verlor aber bei fünfunddreißig die Lust), die jedoch keine lebenswichtigen Organe getroffen oder zerstört hatten. Das Opfer trug keine Papiere bei sich, die seine Identifizierung hätten erleichtern können. Laut Gutachten war die Frau erwürgt worden. Ihre linke Brustwarze zeigte Bissspuren und war halb abgerissen, sie hing nur noch an einigen Knorpelfasern. Noch etwas ging aus dem Gutachten hervor: Bei dem Opfer war ein Bein kürzer als das andere, was, hätte man meinen können, ihre Identifizierung erleichtern sollte, eine Annahme, die sich nicht bewahrheitete, da dieses Merkmal auf keine der bei der Polizei von Santa Teresa vermisst gemeldeten Personen zutraf. An dem Tag, als die Leiche von einer Gruppe jugendlicher Baseballspieler gefunden wurde, erschienen auch Epifanio und Lalo Cura am Tatort. Der Platz war voller Polizisten: Angehörige der Kriminalpolizei, der örtlichen Polizei, der Spurensicherung, außerdem Rotes Kreuz und Journalisten. Epifanio und Lalo Cura schlenderten über das Gelände bis zu der Stelle, wo die Tote lag. Sie war nicht klein, maß mindestens eins achtundsechzig. Bis auf eine weiße, mit Blut und Erde verschmierte Bluse und einen weißen BH war sie nackt. Als sie sich entfernten, fragte Epifanio Lalo Cura, ob ihm etwas aufgefallen sei. An der Toten?, fragte Lalo. Nein, am Tatort, sagte Epifanio und zündete sich eine Zigarette an. Es gibt keinen Tatort, sagte Lalo. Sie haben gewissenhaft alle Spuren vernichtet. Epifanio startete den Wagen. Gewissenhaft nicht, sagte er, sondern wie die Idioten, aber es kommt aufs Gleiche hinaus. Sie haben alle Spuren vernichtet.
1997 war ein gutes Jahr für Albert Kessler. Er hatte Vorträge in Virginia gehalten, in Alabama, in Kentucky, in Montana, in Oregon, in Indiana, in Maine, in Florida. Er hatte Universitäten besucht und mit ehemaligen Schülern gesprochen, die heute Professoren waren und erwachsene Söhne hatten, manche schon verheiratet, was ihn immer wieder überraschte. Er hatte Reisen nach Paris (Frankreich), London (England), Rom (Italien) unternommen, wo sein Name bekannt war und die Zuhörer mit seinem ins Französische, Italienische, Deutsche, Spanische übersetzten Buch in die Vorträge kamen, damit er es signierte und einen liebevollen oder geistreichen Satz hineinschrieb, was er bereitwillig tat. Er war nach Moskau (Russland) und Sankt Petersburg (Russland) und Warschau (Polen) geflogen, und es warteten auf ihn Einladungen in viele weitere Städte, weshalb anzunehmen war, dass 1998 ein ebenso bewegtes Jahr werden würde wie 1997. Eigentlich ist die Welt doch klein, dachte Albert Kessler manchmal, vor allem, wenn er im Flugzeug saß, in der ersten Klasse oder Business-Class, und für Sekunden den Vortrag vergaß, den er in Tallahassee, Amarillo oder New Bedford halten würde, um sich stattdessen in den Anblick bizarrer Wolkenformationen zu vertiefen. Von Mördern träumte er fast nie. Gekannt hatte er viele, vielen anderen war er auf der Spur gewesen,
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