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die fünf Stunden später, kurz bevor es dunkel wurde, auf dem Parkplatz eintraf. Beim Aufstieg am Berg rutschte Kommissar Élmer Donoso aus und brach sich beide Beine. Mit Hilfe der Ausflügler, die vor Ort ausgeharrt hatten, gelang es, den Kommissar in ein Krankenhaus zu schaffen. Im Morgengrauen des folgenden Tages kehrte Juan de Dios Martínez zusammen mit mehreren Polizisten zum Cerro La Asunción zurück; in seiner Begleitung der Lehrer, der die Entdeckung der Knochen gemeldet hatte, die man diesmal problemlos fand, einsammelte und ins gerichtsmedizinische Institut der Stadt brachte, wo festgestellt wurde, dass sie von einer Frau stammten, nicht aber, woran sie gestorben war. An den Überresten war kein weiches Gewebe mehr vorhanden, nicht einmal Leichenfauna. Am Fundort entdeckte Kommissar Juan de Dios Martínez eine von der Witterung zerfressene Hose. Als hätte man ihr die Hose ausgezogen, bevor man sie ins Gebüsch warf. Oder als hätte man sie nackt heraufgebracht und die Hose in einer Tüte, nur um sie dann mehrere Meter von der Toten entfernt fortzuwerfen. Tatsächlich ergab das alles keinen Sinn.
Mit zwölf verloren wir uns aus den Augen. Der Architekt Rivera hatte die blöde Idee, unerwartet und ohne Vorankündigung zu sterben, und mit einem Schlag stand Kellys Mutter nicht nur ohne Ehemann, sondern auch mit einem Haufen Schulden da. Ihre erste Maßnahme bestand darin, Kelly auf eine andere Schule zu tun, dann verkaufte sie ihr Haus in Coyoacán, und sie zogen in eine Wohnung in der Siedlung Roma. Zunächst jedoch telefonierten wir weiter miteinander, und zwei- oder dreimal trafen wir uns. Dann gaben sie die Wohnung in der Siedlung Roma auf und gingen nach New York. Ich erinnere mich, dass ich damals zwei volle Tage lang geheult habe. Ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen. Mit achtzehn ging ich an die Universität. Ich glaube, ich war die erste Frau in meiner Familie, die das tat. Wahrscheinlich ließen sie mich weiterstudieren, weil ich drohte, mich andernfalls umzubringen. Zunächst studierte ich Jura, später Publizistik. Dabei wurde mir klar, dass ich, wenn ich am Leben bleiben wollte, ich meine, als die am Leben bleiben wollte, die ich war, Azucena Esquivel Plata, hinsichtlich meiner Prioritäten, die sich damals von denen meiner Familie nicht substantiell unterschieden, eine Wendung um hundertachtzig Grad vollziehen müsste. Wie Kelly war ich ein Einzelkind, und die Mitglieder meiner Familie siechten dahin und starben einer nach dem anderen. Dahinsiechen und Sterben entsprach, wie Sie sich denken können, nicht meinem Wesen. Ich liebte das Leben zu sehr. Ich liebte, was das Leben mir zu bieten hatte, niemandem mehr als mir, und dass ich das auch verdiente, davon war ich überzeugt. An der Universität begann ich mich zu verändern. Ich lernte eine andere Art von Leuten kennen. In Jura die jungen Haifische des PRI, in Publizistik die Hühnerhunde der mexikanischen Politik. Von allen lernte ich etwas. Meine Professoren liebten mich. Anfangs war das etwas, das mich verunsicherte. Warum ich, die ich von einem Bauernhof kam, wo die Zeit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts stehengeblieben zu sein schien? War ich irgendwie anders? War ich besonders attraktiv oder intelligent? Dumm war ich nicht, das stimmt, aber auch nicht übermäßig intelligent. Warum also diese Sympathie seitens meiner Professoren? Weil ich die letzte Esquivel Plata war, durch deren Adern noch Blut floss? Und wenn, was hatte das schon zu bedeuten, warum sollte mich das zu etwas Besonderem machen? Ich könnte eine Abhandlung über die heimlichen Triebfedern der mexikanischen Sentimentalität schreiben. Wie gewunden wir doch sind. Wie gradlinig wirken wir oder geben wir uns vor anderen, und wie verquer sind wir im Grunde. Wie unbedeutend sind wir doch, und auf welch theatralische Weise winden wir Mexikaner uns vor uns selbst und vor anderen. Und warum das alles? Um was zu verbergen? Um was für einen Eindruck zu erzeugen?
Um sieben Uhr morgens wachte er auf. Um sieben Uhr dreißig ging er, geduscht, im perlgrauen Anzug mit weißem Hemd und grüner Krawatte, hinunter zum Frühstück. Er bestellte Orangensaft, Kaffee und zwei Toast mit Butter und Erdbeermarmelade. Die Marmelade war gut, die Butter weniger. Um acht Uhr dreißig, als er gerade die Verbrechensmeldungen studierte, kamen zwei Polizisten, um ihn abzuholen. Die Haltung der Polizisten zeugte von äußerster Unterwürfigkeit. Sie wirkten wie zwei Huren, denen zum ersten
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