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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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als Schülerinnen im Gymnasium blieb uns keine andere Wahl. Wir verbrachten die Pausen zusammen, spielten miteinander, sprachen über alles. Manchmal lud sie mich zu sich ein, und ich ging immer sehr gern zu ihr, obwohl es meinen Eltern und Großeltern gar nicht recht war, dass ich mit Mädchen wie Kelly Umgang hatte, nicht wegen ihr, natürlich, sondern wegen ihrer Eltern, aus Angst, Architekt Rivera könne die Freundschaft seiner Tochter irgendwie dazu nutzen, in etwas einzudringen, was meiner Familie als sakrosankt galt, in den Panzer unserer Privatsphäre, der den Erschütterungen der Revolution, den Repressionen im Anschluss an den Cristeros-Aufstand und der Marginalisierung widerstanden hatte, in der die Reste des Porfirismo oder eigentlich die Reste des mexikanischen Iturbidismo langsam versanken. Damit Sie sich eine Vorstellung machen können: Mit Porfirio Díaz stand sich meine Familie nicht schlecht, aber mit Kaiser Maximilian stand man sich noch besser, und mit Iturbide, mit einer ungestörten, unaufgeregten iturbidistischen Monarchie hätte man das Optimum erreicht. Für meine Familie, müssen Sie wissen, gab es von uns echten Mexikanern nur sehr wenige. Dreihundert Familien im ganzen Land. Fünfzehnhundert oder zweitausend Personen. Der Rest waren rachsüchtige Indianer oder ressentimentgeladene Weiße oder rücksichtslose Leute, die von sonst woher kamen, um Mexiko in den Ruin zu treiben. Gauner, mehrheitlich. Karrieristen. Schnorrer. Skrupellose Gestalten. In ihren Augen verkörperte Architekt Rivera, wie Sie sich denken können, den Prototypen eines Emporkömmlings. Sie gingen fest davon aus, dass seine Frau nicht katholisch war. Nach allem, was ich mitbekam, hielten sie sie wohl für eine Hure. Nettigkeiten dieser Art eben. Aber sie verboten mir nie, sie zu besuchen (obwohl es ihnen, wie gesagt, nicht gefiel) oder sie immer öfter zu mir einzuladen. Und Kelly mochte mein Zuhause, mochte es mehr als ihr eigenes, was im Grunde verständlich war und viel über ihren Geschmack verriet, der sich schon früh sehr hellsichtig zeigte. Oder sehr eigensinnig, das trifft es wahrscheinlich besser. Wir in Mexiko haben immer Eigensinn mit Hellsicht verwechselt, finden Sie nicht? Wir halten uns für hellsichtig, und in Wirklichkeit sind wir nur eigensinnig. In dieser Hinsicht war Kelly sehr mexikanisch. Sie war eigensinnig und stur. Eigensinniger als ich, was etwas heißen will. Warum gefiel ihr mein Zuhause besser als ihres? Einfach weil mein Zuhause Klasse hatte, ihres dagegen nur Stil, verstehen Sie den Unterschied? Kellys Haus war hübsch, bequemer als meins, will sagen komfortabler, ein Haus mit viel Licht, mit einem großen, behaglichen Wohnzimmer, ideal, um Gäste zu empfangen und Feste zu geben, mit einem modernen Garten, mit Rasen und Rasenmäher, ein vernünftiges Haus, wie man damals sagte. Meines, von dem Sie sich selbst ein Bild machen können, ist dies hier, wenngleich damals viel verwahrloster als heute, ein riesiger Kasten, der nach Grabkammer und Kerzen roch, weniger ein Haus als eine gigantische Kapelle, in dem aber die Attribute von Mexikos Reichtum und Beständigkeit versammelt waren. Ein Haus ohne Stil, stellenweise hässlich wie ein Schiffswrack, aber mit Klasse. Wissen Sie, was das heißt, Klasse haben? Souverän sein, wenn es hart auf hart kommt. Niemandem etwas schuldig bleiben. Niemandem über irgendetwas Rechenschaft ablegen müssen. Und so war Kelly. Ich will nicht behaupten, dass sie sich dessen bewusst war. Ich genauso wenig. Wir waren zwei Mädchen, einfach und kompliziert wie Mädchen, und hielten uns nicht mit Worten auf. Aber sie war so. Purer Wille, pures Dynamit, purer Wunsch nach Vergnügen. Haben Sie Töchter? Nein, sagte Sergio. Weder Töchter noch Söhne. Nun, wenn Sie jemals Töchter haben, werden Sie verstehen, was ich meine. Die Abgeordnete schwieg eine Weile. Ich habe nur einen Sohn gehabt, sagte sie. Er lebt in den USA und studiert. Manchmal wäre es mir lieber, er würde nie nach Mexiko zurückkehren. Ich glaube, das wäre das Beste für ihn.
    An jenem Abend wurde Kessler vom Hotel zu einem Galadiner im Haus des Oberbürgermeisters abgeholt. Am Tisch saßen Sonoras Generalstaatsanwalt, der Oberstaatsanwalt, zwei Kriminalbeamte, ein gewisser Doktor Emilio Garibay, Leiter der gerichtsmedizinischen Abteilung und Inhaber des Lehrstuhls für Pathologie und Rechtsmedizin an der Universität von Santa Teresa, der Konsul der Vereinigten Staaten, Mr. Abraham Mitchell, von allen

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