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aufsteigen, aber es gibt verschiedene Arten, aufzusteigen. Ich wollte Macht, das will ich nicht verhehlen. Ich wollte die Hände frei haben, um in diesem Land etwas zu verändern. Auch das bestreite ich nicht. Ich wollte das Gesundheitssystem und das Bildungswesen verbessern und mein Scherflein dazu beitragen, Mexiko auf das einundzwanzigste Jahrhundert vorzubereiten. Wenn das aufsteigen heißt, dann wollte ich aufsteigen. Ich habe natürlich nicht viel erreicht. Ich bin sicher mehr mit falschen Hoffnungen als mit Grips zu Werke gegangen und habe meinen Irrtum bald eingesehen. Man glaubt, man könne von innen heraus manche Dinge verbessern. Erst versucht man, sie von außen zu verbessern, dann glaubt man, die Möglichkeiten, wirklich etwas zu verändern, seien besser, wenn man drin ist. Zumindest glaubt man, dort sei der Handlungsspielraum größer. Falsch. Es gibt Dinge, die lassen sich weder von außen noch von innen ändern. Aber hier kommt jetzt der ulkigste und unglaublichste Teil der Geschichte (ob unserer traurigen mexikanischen Geschichte oder unserer traurigen lateinamerikanischen Geschichte, bleibt sich gleich). Hier kommt das Un-glaub-li-che. Wenn jemand im Innern Fehler begeht, verlieren diese Fehler an Bedeutung. Die Fehler sind dann keine Fehler mehr. Fehler, Versuche, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, werden zu politischen Tugenden, zu politischen Zwischenfällen, zu politischer Präsenz, medienwirksamen Pluspunkten zu deinen Gunsten. Flagge zeigen und Fehler begehen ist in der Stunde der Wahrheit, also zu jeder Stunde oder zumindest in den Stunden zwischen acht Uhr abends und fünf Uhr morgens, ein ebenso zweckmäßiges Verhalten wie in Deckung gehen und abwarten. Ob du nichts tust oder etwas riskierst, ist nicht wichtig, wichtig ist, dass du Flagge zeigst. Wo? Na dort, wo es drauf ankommt. Auf diese Weise hörte ich auf, bekannt zu sein, und wurde berühmt. Ich war eine attraktive Frau, ich nahm kein Blatt vor den Mund, die Dinosaurier innerhalb des PRI lachten über meine Ausfälle, die Falken hielten mich für eine der ihren, der linke Flügel der Partei feierte unisono meine sprachlichen Entgleisungen. Ich bekam davon kaum etwas mit. Die Wirklichkeit ist wie ein bekiffter Zuhälter. Finden Sie nicht?
Albert Kesslers erster Auftritt an der Universität von Santa Teresa war ein unerhörter Publikumserfolg. Wenn man von zwei Ansprachen absah, die an dieser Stelle vor Jahren einmal ein Präsidentschaftskandidat des PRI, das andere Mal ein amtierender mexikanischer Präsident gehalten hatten, war der Hörsaal der Universität mit seinen fünfzehnhundert Plätzen noch nie so voll gewesen. Konservativen Schätzungen zufolge überstieg die Zahl der Menschen, die gekommen waren, um Kessler zu hören, bei weitem die dreitausend. Es war ein gesellschaftliches Ereignis, jeder, der in Santa Teresa etwas darstellte, wollte ihn kennenlernen, wollte einem so berühmten Besucher vorgestellt werden oder ihn wenigstens aus der Nähe sehen, außerdem ein politisches Ereignis, denn selbst die hitzigsten Vertreter der Opposition schienen sich zu beruhigen oder gewillt, ein zurückhaltenderes, weniger marktschreierisches Verhalten an den Tag zu legen als sonst, sogar die Feministinnen und die Gruppen von Angehörigen verschwundener Frauen und Mädchen beschlossen, auf das wissenschaftliche Wunder, auf das von diesem modernen Sherlock Holmes in Gang gesetzte Wunder des menschlichen Geistes zu hoffen.
Die Nachricht von Haas' Erklärung, in der er die Brüder Uribe schwer beschuldigte, erschien in den sechs Zeitungen, die Korrespondenten in das Gefängnis von Santa Teresa entsandt hatten. Fünf von ihnen hatten vor Veröffentlichung eine Gegenmeinung der Polizei eingeholt, die ebenso wie Mexikos führende Tageszeitungen die Sache als vollkommen unglaubwürdig abtat. Man rief auch beiden Uribes zu Hause an und sprach mit den Angehörigen, die mitteilten, Antonio und Daniel seien auf Reisen oder lebten nicht mehr in Mexiko oder hätten ihren Wohnsitz nach DF verlegt, wo sie an einer der dortigen Universitäten studierten. Die Journalistin vom Independiente de Phoenix, Mary-Sue Bravo, gelangte sogar an die Adresse von Daniel Uribes Vater und bemühte sich um ein Interview mit ihm, doch alle Versuche in dieser Richtung verliefen im Sand. Joaquín Uribe war immer beschäftigt oder nicht in der Stadt oder gerade außer Haus. In den Tagen, an denen Mary-Sue Bravo sich in Santa Teresa aufhielt, traf sie zufällig den
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