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Pritchard.
»In Acht wovor?«, fragte Pelletier aufs Geratewohl.
»Vor der Medusa«, sagte Pritchard. »Hüte dich vor der Medusa.«
Und bevor er seinen Weg treppab fortsetzte, fügte er hinzu:
»Wenn du sie in den Fingern hast, wird sie dich ausquetschen.«
Pelletier blieb eine Zeitlang wie angewurzelt stehen, lauschte Pritchards Schritten auf der Treppe und dann dem Geräusch der sich öffnenden und schließenden Tür. Erst als die Stille unerträglich wurde, setzte er seinen Weg treppauf fort, nachdenklich und im Dunkeln.
Norton sagte er kein Sterbenswort von dem Zwischenfall mit Pritchard, aber kaum zurück in Paris, rief er Espinoza an und erzählte ihm von der rätselhaften Begegnung.
»Seltsam«, sagte der Spanier. »Es klingt wie ein Rat, aber gleichzeitig wie eine Drohung.«
»Außerdem«, sagte Pelletier, »ist Medusa eine der drei Töchter des Phorkys und der Keto, der sogenannten Gorgonen, Seeungeheuer alle drei. Hesiod zufolge waren ihre beiden Schwestern, Stheno und Euryale, unsterblich, Medusa dagegen sterblich.«
»Hast du dich mit griechischer Mythologie befasst?«, fragte Espinoza.
»Das war das Erste, was ich nach meiner Rückkehr getan habe«, sagte Pelletier. »Hör dir das an: Als Perseus der Medusa den Kopf abschlug, entsprangen ihrem Körper Chrysaor, Vater des Ungeheuers Geryon, und das Pferd Pegasus.«
»Pegasus entsprang dem Körper der Medusa? Verdammt!«sagte Espinoza.
»Ja, Pegasus, das geflügelte Pferd, für mich das Sinnbild der Liebe.«
»Für dich ist Pegasus das Sinnbild der Liebe?«, fragte Espinoza.
«Na klar.«
»Eigenartig«, sagte Espinoza.
»Was man auf französischen Gymnasien eben so lernt«, sagte Pelletier.
»Und du glaubst, dass Pritchard darüber Bescheid weiß?«
»Unmöglich«, sagte Pelletier, »obwohl, keine Ahnung, oder nein, ich glaub's nicht.«
»Was schließt du also daraus?«
»Dass Pritchard mich, uns, vor einer Gefahr warnt, die wir nicht sehen. Oder dass Pritchard mir sagen wollte, ich würde erst, wir würden erst nach Nortons Tod die wahre Liebe finden.«
»Nortons Tod?«
»Natürlich, begreifst du denn nicht? Pritchard sieht sich selbst als Perseus, den Mörder der Medusa.«
Eine Zeitlang liefen Espinoza und Pelletier herum wie vom Teufel besessen. Archimboldi, der erneut als klarer Kandidat für den Nobelpreis gehandelt wurde, war ihnen gleichgültig. Ihre Forschung, ihre regelmäßige Zusammenarbeit mit Zeitschriften verschiedener germanistischer Institute in aller Welt, ihre Seminare und sogar die Kongresse, an denen sie wie Schlafwandler oder drogensüchtige Detektive teilnahmen, litten darunter. Sie waren da und doch nicht da. Sie redeten, aber dachten an etwas anderes. Das Einzige, was sie wirklich interessierte, war Pritchard. Die unheilverkündende Anwesenheit von Pritchard, der beinahe ständig um Norton herumscharwenzelte. Ein Pritchard, der Norton mit der Medusa, der Gorgo, gleichsetzte, ein Pritchard, von dem sie in ihrer unendlichen Diskretion kaum etwas wussten.
Um das zu ändern, begannen sie die einzige Person auszufragen, die ihnen Auskunft geben konnte. Anfangs wollte Norton nicht recht mit der Sprache heraus. Wie sie vermutet hatten, war Pritchard Lehrer, aber nicht an der Universität, sondern am Gymnasium. Er kam nicht aus London, sondern aus einem Ort in der Nähe von Bournemouth. Er hatte ein Jahr in Oxford studiert und war dann, unbegreiflich für Espinoza und Pelletier, nach London gegangen, um an der dortigen Universität sein Studium zu beenden. Er war Anhänger der Linken, einer Realo -Linken, und Norton sagte, er habe ihr einmal von Plänen erzählt, aus denen nie etwas Konkretes wurde, in die Labour-Partei einzutreten. Die Schule, an der er unterrichtete, war eine öffentliche Schule mit einem hohen Anteil von Kindern aus Immigrantenfamilien. Er war impulsiv, war großzügig und besaß nicht besonders viel Phantasie, was für Pelletier und Espinoza längst feststand, sie aber nicht sonderlich beruhigen konnte.
»Auch das phantasieloseste Arschloch kann irgendwann, wenn man am wenigsten damit rechnet, etwas total Phantasievolles zustande bringen«, sagte Espinoza.
»England ist voll von solchen Schweinehunden«, lautete Pelletiers Meinung.
Während eines nächtlichen Telefongesprächs zwischen Madrid und Paris stellten sie ohne große Überraschung fest (ohne die mindeste Überraschung, um ehrlich zu sein), dass sie beide Pritchard hassten, und zwar jeden Tag mehr.
Auf dem nächsten Kongress, zu dem
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