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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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häufiger.
    Pelletier probierte verschiedene Gesprächsthemen durch. Er versuchte über Kino zu reden, über Musik, über die jüngsten Theaterinszenierungen, bekam dabei aber nicht einmal Hilfe von Espinoza, der mit Pritchard um die Wette zu schweigen schien, obgleich dessen Schweigen zumindest das gleichermaßen zerstreute wie interessierte Schweigen des Beobachters war, Espinozas Schweigen dagegen das des Beobachteten, den Scham und Unglück übermannt hatten. Plötzlich und ohne dass jemand hätte sagen können, wer damit angefangen hatte, sprachen sie von ihren Archimboldi-Studien. Wahrscheinlich hatte Norton von der Küche aus ihr gemeinsames Forschungsgebiet erwähnt. Pritchard wartete, bis sie auf dem Sofa saß, und sagte dann, den Arm erneut hinter ihr auf der Rückenlehne, seine Spinnenfinger auf ihrer Schulter, dass er die deutsche Literatur für Schwindel halte.
    Norton lachte, als hätte jemand einen Witz erzählt. Pelletier fragte, was an deutscher Literatur er, Pritchard, kenne.
    »Eigentlich sehr wenig«, sagte der junge Mann.
    »Nun, dann sind Sie ein Kretin«, sagte Espinoza.
    »Oder zumindest ein Ignorant«, sagte Pelletier.
    »In jedem Fall ein Dämlack«, sagte Espinoza.
    Pritchard verstand die Bedeutung des Wortes Dämlack nicht, das Espinoza auf Spanisch gesagt hatte. Auch Norton wusste nicht, was es bedeutete, und fragte nach.
    »Ein Dämlack ist eine Art Windbeutel«, sagte Espinoza. »Man kann die Bezeichnung ebenso gut für Trottel verwenden, allerdings gibt es auch Trottel mit Tiefgang, und Dämlack verwendet man ausschließlich für die Windbeutel unter den Trotteln.«
    »Soll das eine Beleidigung sein?«, wollte Pritchard wissen.
    »Fühlen Sie sich beleidigt?«, fragte Espinoza, und der Schweiß brach ihm aus allen Poren.
    Pritchard nippte an seinem Orangensaft und sagte ja, eigentlich fühle er sich beleidigt.
    »Dann haben Sie wohl ein Problem, mein Herr«, sagte Espinoza.
    »Typische Reaktion eines Dämlacks«, fügte Pelletier hinzu.
    Pritchard erhob sich vom Sofa. Espinoza erhob sich vom Sessel. Norton sagte, es reicht jetzt, ihr benehmt euch wie kleine Kinder. Pelletier begann zu lachen. Pritchard trat an Espinoza heran und stieß ihm mit dem Zeigefinger, der fast so lang war wie der Mittelfinger, gegen die Brust. Er stieß einmal, zweimal, dreimal, viermal zu und sagte dabei:
    »Erstens mag ich es nicht, wenn man mich beleidigt. Zweitens mag ich es nicht, wenn man mich für dumm verkauft. Drittens mag ich es nicht, wenn sich ein Scheißspanier über mich lustig macht. Viertens: Wenn du mir noch was zu sagen hast, gehen wir vor die Tür.«
    Espinoza sah zu Pelletier und fragte ihn, auf Deutsch natürlich, was er tun solle.
    »Geh nicht mit vor die Tür«, sagte Pelletier.
    »Alex, verschwinde von hier«, sagte Norton.
    Und da Pritchard im Grunde nicht die Absicht hatte, sich zu prügeln, gab er Norton einen Kuss auf die Wange und verschwand, ohne sich von ihnen zu verabschieden.
    Später am Abend aßen sie zu dritt im Jane & Chloe. Anfangs waren sie noch etwas betreten, aber das Essen und der Wein ließen sie wieder aufleben, und am Ende kehrten sie lachend nach Hause zurück. Trotzdem wollten sie Norton nicht fragen, wer dieser Pritchard war, und sie vermied ihrerseits jede Bemerkung, die über den langen und übellaunigen jungen Mann Aufschluss hätte geben können. Im Gegenteil, kurz vor Ende des Essens sprachen sie wie zur Erklärung über sich selbst, und wie nah sie daran gewesen seien, die Freundschaft, die jeder von ihnen für den anderen empfand, auf vielleicht unwiderrufliche Weise aufs Spiel zu setzen.
    Einhellig meinten sie, Sex sei etwas zu Nettes (obwohl sie diese Formulierung fast augenblicklich bereuten), als dass er einer Freundschaft im Weg stehen durfte, die sich auf gleichermaßen emotionale wie intellektuelle Verbundenheit gründete. Pelletier und Espinoza waren jedoch ernstlich bemüht, hier, einer vor dem anderen, deutlich zu machen, dass es für sie wie vermutlich auch für Norton das Beste wäre, sie würde sich eines Tages möglichst untraumatisch ( soft-landing, sagte Pelletier) für einen von beiden - oder für keinen, sagte Espinoza - entscheiden, eine Entscheidung, die selbstverständlich ganz in ihren, Nortons, Händen lag und die sie treffen mochte, wann sie wollte, dann, wenn es ihr passte, auch nie, wenn sie wollte, die sie hintanstellen, vertagen, aufschieben, verschleppen, bis zu ihrem Totenbett hinauszögern konnte, das war ihnen egal, denn sie

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