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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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sie ihm Wasser ins Gesicht klatschten und wieder zu Bewusstsein brachten.
    Ansonsten redete Nisa nicht viel, sei es aus höflicher Zurückhaltung oder weil er sie nicht mit seiner schlechten Aussprache des Deutschen beleidigen wollte. Ab und zu sagte er jedoch interessante Sachen. Er sagte, Zen sei ein Berg, der sich in den Schwanz beiße. Er sagte, er habe eigentlich die englische Sprache erlernt, und dass man ihn nach Berlin entsandt habe, beruhe auf einer der vielen Verwechslungen des Ministeriums. Er sagte, Samurais seien wie Fische in einem Wasserfall, der beste Samurai aller Zeiten sei jedoch eine Frau gewesen. Er sagte, sein Vater habe einmal einen christlichen Mönch kennengelernt, der fünfzehn Jahre auf dem wenige Meilen vor Okinawa gelegenen Inselchen Endo lebte, ohne es je zu verlassen, und dass die Insel aus Vulkanstein bestehe und es auf ihr kein Wasser gebe.
    Wenn er Sachen wie diese sagte, tat er es gewöhnlich mit einem Lächeln. Halder wiederum widersprach ihm und behauptete, Nisa sei Schintoist, ihm hätten es nur die deutschen Nutten angetan, und neben Deutsch und Englisch könne er auch Finnisch, Schwedisch, Norwegisch, Dänisch, Holländisch und Russisch fehlerfrei sprechen und schreiben. Wenn Halder Sachen wie diese sagte, lachte Nisa dazu ein leises hi hi hi, zeigte Hans seine Zähne und strahlte.
    Gelegentlich jedoch, wenn sie sich auf Caféterrassen oder um einen dunklen Tisch im Varieté versammelt hatten, versank das Trio wie von ungefähr in ein zähes Schweigen. Sie schienen plötzlich zu versteinern, die Zeit zu vergessen und sich ganz nach innen zu kehren, als würden sie den Abgrund des Alltäglichen, den Abgrund der Leute, den Abgrund der Gespräche hinter sich lassen, um auf so etwas wie eine Wasserlandschaft hinauszuschauen, eine spätromantische Landschaft, wo sich die Grenzen von Dämmerung zu Dämmerung bemaßen, zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten lang, eine gefühlte Ewigkeit, wie die Minuten der zum Tode Verurteilten, wie die Minuten der zum Tode verurteilten Gebärenden, die begreifen, dass mehr Zeit nicht mehr Ewigkeit bedeutet, und die sich trotzdem sehnlichst mehr Zeit wünschen, und die Säuglingsschreie waren die Vögel, die von Zeit zu Zeit mit größter Heiterkeit die doppelte Wasserlandschaft querten, wie prächtige Wucherungen oder pochende Herzen. Entsprechend verspannt tauchten sie anschließend aus ihrem Schweigen auf und sprachen wieder über Erfindungen, über Frauen, über finnische Philologie und den Autobahnbau in der Geographie des Reiches.
    Nicht selten beendeten sie ihre nächtlichen Streifzüge in der Wohnung einer gewissen Grete von Joachimsthaler, einer alten Freundin von Halder, mit der ihn eine an Ausflüchten und Missverständnissen reiche Beziehung verband.
    In Gretes Wohnung waren regelmäßig Musiker zu Gast, unter ihnen auch ein Dirigent, den Halder sehr schätzte und der die These vertrat, die Musik sei die vierte Dimension. Der Dirigent war fünfunddreißig, wurde angehimmelt wie ein Mann von fünfundzwanzig (die Frauen lagen ihm zu Füßen) und verehrt wie einer von achtzig. Wenn er kam, um den Abend bei Grete zu beschließen, setzte er sich in aller Regel an den Flügel, den er aber nicht anrührte, und war sofort von einem Kreis verzückter Freunde und Anhänger umgeben, bis er sich schließlich erhob und wie ein Imker aus einem Bienenschwarm auftauchte, nur dass dieser Imker ohne Netzanzug und Helm unterwegs war, und wehe der Biene, die es wagte, ihn zu stechen, und sei es nur in Gedanken.
    Die vierte Dimension, sagte er, enthalte die drei bekannten und verhelfe ihnen nebenbei zu ihrem wahren Wert, das heißt, sie überwinde die Diktatur der drei Dimensionen, mithin die der dreidimensionalen Welt, die wir kennen und in der wir leben. Die vierte Dimension, sagte er, sei die absolute sinnliche und GEISTIGE Fülle, will sagen, das AUGE, das sich öffnet und die Augen auslöscht, die verglichen mit dem AUGE bestenfalls armselige, trübe Öffnungen sind, in der Anschauung verhaftet, oder in der Gleichung Geburt-Lehrjahre-Arbeit-Tod, während das AUGE sich über den Strom der Philosophie, den Strom der Existenz, den Strom (die Stromschnellen) des Schicksals emporschwingt.
    Die vierte Dimension, sagte er, lasse sich nur durch die Musik ausdrücken. Bach, Mozart, Beethoven.
    An den Dirigenten war schwer heranzukommen. Wobei die Schwierigkeit nicht in der physischen Annäherung bestand, sondern darin, von ihm, der von den Strahlern geblendet und durch

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