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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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einen Graben von allen anderen getrennt war, überhaupt gesehen zu werden. Eines Nachts jedoch weckte das pittoreske Trio, bestehend aus Halder, dem Japaner und Hans, seine Aufmerksamkeit, und er erkundigte sich bei der Gastgeberin nach ihnen. Halder, sagte sie, sei ein Freund, Sohn eines einst vielversprechenden Malers, Neffe des Barons von Zumpe, der Japaner arbeite in der japanischen Gesandtschaft und der hoch aufgeschossene, schlaksige und schlecht gekleidete junge Mann sei sicherlich ein Künstler, möglicherweise ein von Halder protegierter Maler.
    Daraufhin wollte der Dirigent sie kennenlernen, und die vorzügliche Gastgeberin winkte das überraschte Trio mit dem Zeigefinger heran und führte sie in einen abgelegenen Teil der Wohnung. Anfangs wussten sie naturgemäß nicht, was sie sagen sollten. Der Dirigent sprach einmal mehr über Musik und über die vierte Dimension, damals sein Lieblingsthema, allerdings blieb unklar, wo das eine endete und das andere begann, gewissen dunklen Äußerungen des Dirigenten nach zu urteilen bildete vermutlich er selbst den Punkt, an dem die Geheimnisse und die Antworten spontan zueinander fanden. Halder und Nisa nickten zu allem, nicht so Hans. Dem Dirigenten zufolge war - grosso modo - das Leben in der vierten Dimension von unvorstellbarer Fülle, etc. etc., aber das eigentlich Wichtige war die Entfernung, aus der man, in diese Harmonie getaucht, das menschliche Treiben betrachten konnte, gleichmütig, mit anderen Worten, ohne künstliche Hemmschuhe für den Geist des Menschen, der sich seinem Schöpfertum und seiner Arbeit widmet, der einzigen transzendenten Wahrheit des Lebens, jene Wahrheit, die Leben schafft und dann noch mehr Leben schafft und noch mehr Leben, einen unerschöpflichen Strom von Leben und Freude und Helligkeit.
    Der Dirigent redete und redete, von der vierten Dimension und irgendwelchen Symphonien, die er dirigiert hatte oder nächstens dirigieren wollte, ohne den Blick von ihnen zu wenden. Seine Augen waren wie die eines Falken, der fliegt und sich zugleich am Fliegen ergötzt, ohne dass sein scharfer Blick je erlahmt, ein Blick, der noch die kleinste Bewegung tief unten im kunterbunten Bild der Erde auszumachen vermag.
    Vielleicht war der Dirigent ein wenig betrunken. Vielleicht war der Dirigent müde und dachte an etwas anderes. Vielleicht verrieten die Worte des Dirigenten nichts über seinen Gemütszustand, seinen Charakter, seine zitternde Empfänglichkeit für das Künstlerische.
    An diesem Abend jedoch fragte Hans, oder fragte sich selbst (es war das erste Mal, dass er den Mund aufmachte), was die, die in der fünften Dimension lebten oder in ihr verkehrten, so dächten. Der Dirigent verstand ihn zuerst nicht ganz, obwohl sich das Deutsch von Hans sehr gebessert hatte, seit er zur Straßenbaubrigade gegangen war, und erst recht, seit er in Berlin lebte. Dann begriff er und sah nicht länger Halder und Nisa an, sondern richtete seinen Falkenblick oder Adlerblick oder Aasgeierblick auf die ruhigen, grauen Augen des jungen Preußen, der schon zur nächsten Frage ansetzte: Was denken jene, die freien Zugang zur sechsten Dimension haben, von denen, die sich in der fünften oder vierten Dimension eingerichtet haben? Was hielten jene, die in der zehnten Dimension lebten, also jene, die zehn Dimensionen wahrnahmen, zum Beispiel von Musik? Was war ihnen Beethoven? Was Mozart? Was Bach? Wohl doch nur Lärm, antwortete der junge Reiter sich selbst, ein Lärm wie welke Blätter, ein Lärm wie verbrannte Bücher.
    Da hob der Dirigent die Hand und sagte oder vielmehr flüsterte vertraulich:
    »Sprechen Sie nicht von verbrannten Büchern, junger Freund.«
    Worauf Hans antwortete:
    »Alles ist ein verbranntes Buch, lieber Herr Dirigent. Die Musik, die zehnte Dimension, die vierte Dimension, die Wiegen, die Produktion von Kugeln und Gewehren, die Westernromane: Alles verbrannte Bücher.«
    »Was reden Sie da?«, fragte der Dirigent.
    »Ich äußerte nur meine Meinung«, sagte Hans.
    »Irgendsoeine Meinung«, sagte Halder und versuchte, der Sache vorsichtshalber eine spaßige Wendung zu geben, um zwischen sich und dem Dirigenten und zwischen dem Dirigenten und seinem Freund keine Feindseligkeit aufkommen zu lassen. »Die vorlaute Bemerkung eines Jugendlichen.«
    »Nein, nein«, sagte der Dirigent, »was meinen Sie, wenn Sie von Westernromanen sprechen?«
    »Cowboyromane«, sagte Hans.
    Durch diese Erklärung schien eine Last vom Dirigenten abzufallen, der noch ein

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