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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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(die Baroness hing an seinem Hals), ein Gedicht, das wieder keiner von ihnen verstand, bis auf das Wort Dracula, das sich alle vier Verse wiederholte, ein Gedicht, das kriegerisch oder satirisch oder metaphysisch oder wie aus Marmor oder sogar antideutsch sein konnte, dessen Rhythmus aber wie durch Zufall mit der Situation harmonierte, ein Gedicht, das die junge Baroness, rittlings auf Entrescus Schoß, zelebrierte, indem sie sich vor- und zurückbog wie ein Hirtenmädchen in der asiatischen Steppe, dabei ihrem Liebhaber die Nägel in den Hals krallte, ihm ihr Blut, das immer noch aus ihrer Hand sickerte, ins Gesicht schmierte, mit dem Blut seine Mundwinkel netzte, ohne dass Entrescu darüber sein Rezitieren unterbrach, das mit jeder vierten Gedichtzeile im Namen Dracula widerhallte, bestimmt ein satirisches Gedicht, wie Reiter (unendlich vergnügt) für sich entschied, während der Soldat Wilke sich erneut einen runterholte.
    Als alles vorbei war, obwohl für den unermüdlichen Entrescu und die unermüdliche Baroness längst nicht alles vorbei war, gingen sie schweigend durch den Gang zurück, rückten schweigend den Spiegel an seinen Platz, schlichen schweigend hinunter in die improvisierte Kellerkaserne und legten sich schweigend zu ihren jeweiligen Waffen und Uniformen schlafen.
    Am nächsten Morgen verließ die Einheit das Schloss, nachdem zuvor die beiden Wagen mit den Gästen abgefahren waren. Nur der SS-Offizier blieb bei ihnen, während sie noch fegten, abwuschen und alles aufräumten. Dann, nachdem der Offizier alles zu seiner vollsten Zufriedenheit erledigt fand, gab er den Befehl zum Aufbruch, die Einheit bestieg die Lastwagen, und hinunter ging es in die Ebene. Im Schloss blieb nur der Wagen des SS-Offiziers zurück, ohne Fahrer, was immerhin eigenartig war. Während sie sich entfernten, sah Reiter ihn auf einer Zinne stehen und den Abmarsch der Einheit beobachten, wobei er einen immer längeren Hals machte und sich auf die Fußspitzen stellte, bis das Schloss auf der einen und die Lastwagen auf der anderen Seite ganz verschwunden waren.

Während seiner Militärzeit in Rumänien beantragte und bekam Reiter zwei Urlaubsscheine, mit denen er seine Eltern besuchte. In seinem Dorf lag er dann den ganzen Tag in den Klippen und schaute aufs Meer, ohne Lust, schwimmen oder gar tauchen zu gehen, oder er unternahm lange Spaziergänge über Land, die jedes Mal bei dem Landhaus des Barons von Zumpe endeten, das jetzt, leer und geschrumpft, von dem früheren Waldhüter bewacht wurde, mit dem er gelegentlich ein paar Worte wechselte, wobei die Unterhaltungen, wenn man von Unterhaltungen sprechen konnte, eher enttäuschend ausfielen. Der Waldhüter fragte, wie es mit dem Krieg laufe, und Reiter zuckte die Schultern. Im Gegenzug fragte Reiter nach der Baroness (in Wirklichkeit fragte er nach dem Prinzesschen, wie die Ortsansässigen sie nannten), und der Waldhüter zuckte die Schultern. Das Schulterzucken konnte bedeuten, dass der andere nichts wusste, oder auch, dass die Wirklichkeit immer verschwommener, immer traumähnlicher wurde, oder auch, dass alles schlecht lief und man am besten nicht fragte, sondern sich in Geduld fasste.
    Er verbrachte auch viel Zeit mit seiner Schwester Lotte, die damals schon über zehn war und ihren Bruder anhimmelte. Reiter musste über diese Verehrung lachen, aber zugleich machte sie ihn traurig, stürzte ihn sogar in trübe Gedanken, in denen nichts mehr Sinn hatte, doch hütete er sich, einen Entschluss zu fassen, denn er war sich sicher, dass ihn irgendwann eine Kugel töten würde. In einem Krieg bringt sich niemand um, dachte er, während er im Bett lag und seine Mutter und seinen Vater schnarchen hörte. Warum? Aus Bequemlichkeit wohl, um den Zeitpunkt hinauszuzögern, denn der Mensch neigt dazu, seine Verantwortung an andere abzutreten. Die Wahrheit ist, dass nie mehr Menschen Selbstmord begehen als im Krieg, aber Reiter war damals zu jung (obwohl man nicht mehr sagen konnte, zu unerfahren), um das zu wissen. Während seiner beiden Heimaturlaube besuchte er (auf dem Weg in sein Dorf) jedes Mal Berlin und versuchte vergeblich, Hugo Halder wiederzusehen.
    Er fand ihn nicht. In seiner Wohnung lebte jetzt eine Beamtenfamilie mit vier heranwachsenden Töchtern. Auf seine Frage, ob der Vormieter seine neue Anschrift hinterlassen habe, antwortete der Familienvater, ein Parteimitglied, frostig, das wisse er nicht, aber als Reiter schon fast wieder draußen war, holte ihn auf der Treppe

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