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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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die sehr verliebt waren und sich viel zu erzählen hatten. Wäre der hypothetische Beobachter jedoch näher herangegangen und hätte dem Paar in die Augen geschaut, hätte er gemerkt, dass das junge Mädchen verrückt war und der junge Soldat dies wusste, dass es ihm aber egal war. Tatsächlich interessierte es ihn gerade überhaupt nicht, dass das Mädchen verrückt war, selbst die Adresse von Hugo Halder kaum noch, er wollte jetzt endlich erfahren, welches die wenigen Dinge waren, die Ingeborg für würdig hielt, um dabei zu schwören. Also fragte und fragte er, nannte versuchsweise Ingeborgs Schwestern, die Stadt Berlin, den Frieden in der Welt, die Kinder der Welt, die Vögel der Welt, die Oper, die Flüsse Europas, die Bilder von, ach, ehemaligen Liebsten, ihr (Ingeborgs) eigenes Leben, die Freundschaft, den Humor und was ihm sonst noch einfiel, und bekam eine abschlägige Antwort nach der anderen, bis dem Mädchen schließlich, nachdem sie jeden Winkel des Parks abgelaufen waren, zwei Dinge einfielen, die sie für einen Schwur gelten lassen wollte.
    »Willst du wissen, welche es sind?«
    »Natürlich will ich das wissen«, sagte Reiter.
    »Ich hoffe, du lachst nicht, wenn ich sie dir sage.«
    »Ich werde nicht lachen«, sagte Reiter.
    »Egal was ich sage, du wirst nicht lachen?«
    »Ich werde nicht lachen«, sagte Reiter.
    »Das Erste sind Gewitter«, sagte das Mädchen.
    »Gewitter?«, sagte Reiter verblüfft.
    »Nur die schweren Gewitter, wenn der Himmel schwarz und die Luft grau wird. Donner, Blitze, Wetterleuchten, Bauern, die es auf dem Feld erwischt«, sagte das Mädchen.
    »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Reiter, der, ehrlich gesagt, Gewitter nicht ausstehen konnte. »Und was ist das andere?«
    »Azteken«, sagte das Mädchen.
    »Azteken?«, sagte Reiter, noch verblüffter als beiden Gewittern.
    »Ja«, sagte das Mädchen, »die Azteken, die in Mexiko gelebt haben, bevor Cortés kam, die mit den Pyramiden.«
    »Also die Azteken, diese Azteken also«, sagte Reiter.
    »Es gibt nur diese Azteken«, sagte das Mädchen, »die, die in Tenochtitlán und Tlatelolco gelebt und Menschenopfer dargebracht und in zwei Städten mitten auf dem See gelebt haben.«
    »So, in zwei Städten mitten auf dem See«, sagte Reiter.
    »Ja«, sagte das Mädchen.
    Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Dann sagte das Mädchen: »Ich stelle mir diese Städte vor wie Genf und Montreux. Ich war im Urlaub einmal mit meiner Familie in der Schweiz. Wir fuhren mit dem Schiff von Genf nach Montreux. Im Sommer ist der Genfer See herrlich, es gibt vielleicht nur zu viele Mücken. Wir haben in einer Herberge in Montreux übernachtet und sind am nächsten Tag mit dem Schiff nach Genf zurückgekehrt. Warst du schon einmal am Genfer See?«
    »Nein«, sagte Reiter.
    »Er ist sehr schön, und es gibt nicht nur diese beiden Städte, es gibt ganz viele Orte, Lausanne zum Beispiel, das größer ist als Montreux, oder Vevey oder Evian. Sicher mehr als zwanzig Orte, manche winzig klein. Kannst du dir das vorstellen?«
    »Vage«, sagte Reiter.
    »Schau, das ist der See.« Das Mädchen zeichnete mit der Fußspitze den See auf den Boden. »Hier liegt Genf, dort, am anderen Ende, Montreux, und das sind die übrigen Orte. Kannst du es dir jetzt vorstellen? «
    »Ja«, sagte Reiter.
    »Und so«, sagte das Mädchen, während sie mit dem Schuh die Karte wegwischte, »stelle ich mir auch den See der Azteken vor. Nur viel hübscher. Ohne Mücken, mit angenehmen Temperaturen das ganze Jahr über, mit haufenweise Pyramiden, so viele und so große, dass man sie unmöglich zählen kann, Pyramiden über Pyramiden, Pyramiden, die andere Pyramiden verdecken, alle rot gefärbt vom Blut der Menschen, die jeden Tag geopfert werden. Und dann stelle ich mir die Azteken vor, aber das interessiert dich vielleicht nicht«, sagte das Mädchen.
    »Doch, es interessiert mich«, sagte Reiter, der sich noch nie Gedanken über die Azteken gemacht hatte.
    »Es sind seltsame Leute«, sagte das Mädchen, »wenn du ihnen in die Augen schaust, merkst du bald, dass sie verrückt sind. Aber sie sitzen in keinem Irrenhaus. Oder vielleicht doch. Aber scheinbar nicht. Die Azteken sind todschick gekleidet, sie wählen ihre tägliche Kleidung sehr sorgfältig aus, man würde meinen, sie bringen Stunden im Ankleidezimmer damit zu, die passenden Kleider auszuwählen, dann ziehen sie kostbare Federhüte auf, Juwelen an Armen und Füßen, dazu Ketten und Ringe, und sowohl Frauen wie Männer

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